Dienstag, 24. Juni 2025

Wenn die Katze stirbt

Bronze eines Pferdeskeletts in Mainz. Künstler unbekannt. Im Hintergrund blauer Himmer über dem Rhein

Ich bin ein schlechter Schriftsteller. Jetzt weiß ich's. Ein guter Schriftsteller schafft es, alles in Worte zu fassen. Selbst die unmöglichsten Vorstellungen: vom Horror in Kriegssituationen, von den unmenschlichen Machenschaften der Nazis, von Nahtoderfahrungen und unerträglichen Schmerzen.

Ich kann nicht beschreiben, wie es mir hier geht, bei meiner Familie. Ich verstehe, dass jeder seine Familie hat und jeder trägt sein eigenes Los. Ich nehme mir nicht heraus, dass es in meiner Familie schlimmer ist als woanders. Ich bin jedoch felsenfest davon überzeugt, dass es hier anders zugeht als bei allen, die ich kenne, die ich je kennengelernt habe.

Vor allem die, die mich persönlich kennen, und womöglich sogar meine Familie kennengelernt haben, konnten es nie begreifen. Alles wird von ihnen intellektualisiert, in eloquente Phrasen verpackt, was hier mit mir tatsächlich passiert.

Wäre ich doch nur ein guter Schriftsteller! Dann könnte ich es euch so erklären, dass ihr mich versteht.

Während es bei anderen immer wieder Muster gibt, die sich vergleichen lassen, kenne ich kaum jemanden mit Erfahrungen wie meinen. Es gibt solche Leute, ja – aber keine, mit denen ich darüber spreche. Manche gehören zu meiner Vergangenheit, mit der ich nur selten kollidiere. Und wenn, dann nicht bei solchen Themen.

Vielleicht hilft eine einfache Rechnung:
Da sind die, deren Eltern auch nach Deutschland kamen – Kanaken zweiter Generation, wie ich. Meistens ungelernte Arbeiter, ohne Bildung. Wie meine. Aber keiner von denen lebt ein Künstlerleben.
Dann die anderen: Künstlerähnliches Dasein, Eltern ohne Bildung, aber deutsch. Kein Kanakenproblem.
Und dann gibt’s sicher welche da draußen, die wie ich sterben müssen. In sechs Monaten habe ich keinen getroffen. Und selbst wenn – wie groß ist die Chance, dass jemand Künstler ist, Kanake zweiter Generation und dem Tod geweiht?

Wäre ich doch nur ein guter Schriftsteller! Dann könnte ich vielleicht dieses Gefühl vermitteln. Es sitzt zu tief. Zu verwurzelt ist das verdammte Elend in meiner Seele. Selbst Carl Gustav mit all seinen psychoanalytischen Methoden könnte diese Emotionen nicht destillieren, nicht greifbar machen. Ich will keinen Essay schreiben, keine Meilensteine in der Psychologie setzen. Ich wünschte, ich könnte ein Gefühl von wahrer Empathie auslösen – kein Mitleid – Empathie! Aber die verlangt, dass man sich in einen Menschen hineinversetzen kann.

Wie soll das möglich sein? Wie soll ich nachvollziehen können, wie es sich anfühlt, Frau zu sein? Abends durch dunkle Gassen zu gehen, auf Kopfhörer zu verzichten, weil jederzeit Gewalt drohen kann? Pure Angst. Immer. Ich kenne diese Angst nicht. Ich habe andere, ja – jeden Tag. Todesangst. Aber ist sie vergleichbar mit der alltäglichen Angst einer Frau? Natürlich nicht. Man kann dieses Gefühl nur zu beschreiben versuchen. Für Frauen ist das vielleicht leichter. Selbst bei der schlechtesten Beschreibung haben sie sofort ein Bild – weil sie es selbst schon erlebt haben. Aber Männer brauchen eine verdammt präzise Beschreibung – und selbst dann haben sie keine Ahnung.

Neulich schrieb mir ein Freund, er wisse, nur die, die es selbst durchmachen, könnten verstehen, was in mir vorgeht. Vielleicht auch die, die es schon durchgemacht haben. Ich habe lange darüber nachgedacht – und bin zum Schluss gekommen: Das stimmt nicht. Auch das ist etwas anderes. Eine Person, die Krebs hatte, aber nicht mehr hat, hatte heilbaren Krebs. Ich sage nicht, dass das weniger belastend ist. Was weiß ich schon, wie es ist, jeden Tag durch diese Hölle zu gehen – OPs, Chemos, Bestrahlungen, Arzttermine? Aber am Ende jeder dieser Sitzungen steht eins: Hoffnung auf Leben.

Ich habe das alles nicht. Ich habe kaum Schmerzen, keine großen Probleme. Alle Nebenwirkungen, die das Medikament hervorruft, können relativ leicht mit anderen Medikamenten behandelt werden. Man sieht mir kaum an, dass ich tatsächlich krank bin. Und weil ich momentan mehr auf meine Ernährung achte als je zuvor, sehe ich allmählich wieder gesünder aus, als noch vor zwei Monaten. Und das ist das Problem. Man wirft mir quasi vor, ich sehe zu gut aus. Nicht krank genug. Deswegen wirkt es so, als wäre ich ein Jammerlappen oder einer, der simuliert. Pass auf, ich bin am Ende doch ein verdammter Betrüger!

Nein. Erst wenn ich im Krankenbett liege, die letzten Atemzüge mache, wird mir zugestanden, dass ich sterbe. Dann darf ich vom Tode sprechen. Sicherlich trudeln dann wieder Mitleidsbekundungen und Hilfsangebote ein. Bis dahin gilt: Er steht, geht, macht Sport und lacht. Sprich – alles in Ordnung!

Ich muss LSD nehmen, um für fünf Minuten oder sogar eine Stunde zu vergessen, dass ich krank bin. Bei großer Menge vergesse ich sogar ganz, wer ich bin. Was mich nicht stört – ich habe Halluzinogene mein Leben lang gemocht, weil sie mir auf Zeit Urlaub von meinem verdammt anstrengenden Wesen gönnen. Ich trete aus mir heraus, sehe die Welt anders. Escapismus? Nein, nicht wirklich. Das wäre es, wenn ich es ständig täte, um vor der Realität zu flüchten. Aber ich mag die Realität, mit all ihren Schwächen. Ich genieße nur ganz selten einen Trip, um Abstand von diesem permanent denkenden Ich zu gewinnen.

Zurück zur Familie: Hier ist es so schlimm, weil mein Vater auf Skiern von 1943 den Mount Everest runterrast und ich nur zusehen kann.

Meine Mutter ist die schlimmste Scheuklappenträgerin – sie weigert sich, meine Krankheit zu akzeptieren. Für sie gibt’s nur physischen Schmerz. Die Psyche? Ein Hirngespinst. Letztens fragte sie mich ernsthaft am Telefon, ob ich mir nicht wenigstens jetzt eine Frau suchen will, die mir beim Haushalt hilft und Gesellschaft leistet. Als ob es früher nur eine Laune gewesen wäre, dass ich alleine bin. Und jetzt, im Angesicht der Krankheit, endlich vernünftig werde. Genial. Ich wünschte, ich hätte die Einfalt, so zu denken.

Und dann gibt es noch meinen Bruder, der seit dem Tenenbaums-Beitrag nicht mehr mit mir redet. Ob es daran liegt, dass ich in Berlin begraben werden und mein geistiges Eigentum von Y. verwaltet haben möchte? Ob es am Tonfall am Telefon lag oder an der Mail, die ich ihm danach schrieb? Oder ob er mir einfach nicht begegnen kann, weil er fühlt wie die oben beschriebenen Leute? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er jeden Kontakt verweigert. So sieht mein Leben hier aus. Bei meiner Familie. Wenn ich sie besuche.

Ich sitze auf dem Balkon meiner Eltern, während ich diese Zeilen schreibe. Es ist ein Pseudoidyll. Hundegebell, Fluglärm, Rasenmäher, Hubschrauber, Presslufthammerschläge, Klirren, Sägen und Bohren der Baustelle nebenan, das Nägelklipsen meines Vaters, der Tratsch meiner Mutter, obwohl ich sie gebeten habe, mich in Ruhe schreiben zu lassen. Ich HASSE dieses Dorf mit jeder Zelle. Nein – das ist kein Idyll. Das ist meine Hölle. Hier entstehen Tumore. Hier wachsen Metastasen.

Heute Nachmittag kann ich fahren. Ich schwöre mir wieder einmal: nie wieder zurück. Bis zum nächsten Mal. Wer den Tod nicht langsam mag, muss ihn selbst beschleunigen. Und ich wünsche mir dabei nur eins: zärtliche Ruhe. Keine lauten Pauken.

So wie die Katze lieber für sich allein stirbt...

Victor Mancini

Keine Kommentare

Kommentar veröffentlichen

© Vic Mancini on Death Row
Maira Gall