Donnerstag, 26. Juni 2025

"Little Man"

 

Triptychon einer christlichen Szene in der U-Bahn-Station Kirchplatz in Frankfurt am Main

– so nannte mich ein ehemaliger Schüler neulich bei einem Abschlussvortrag, in dem er mich als positive Erfahrung seiner Zeit in Berlin erwähnte. Wirklich netter Typ, guter Mensch – aber trotzdem daneben. Gut gemeint war auch sein Satz: „Where there is life, there is hope“ – Ecclesiastes 9:4.

Auf Deutsch steht sinngemäß:

„Denn wer zu den Lebenden gehört, der hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe.“ Prediger (Kohelet) 9,4.

Ich sage an dieser Stelle: Danke, B., dass du an mich denkst. Aber ich bin ein stolzer sterbender Löwe. Solch Spruch wird von dem gesagt, der Trost spenden will. Niemals von dem, der dem Tode geweiht ist. Außerdem: ICH HASSE BIBELSPRÜCHE!

Apropos Tod. Gestern war ich wieder bei meiner Onkologin des Todes. Um es ein letztes Mal klarzustellen: Nur weil ich sie so nenne, heißt das nicht, dass ich sie nicht mag. Ganz im Gegenteil. Ich mag sie, weil sie sich wie die richtige Mischung aus Empathie und Professionalität anfühlt. Ein Dialog von gestern:

Ich: Ein paar Freunde fragten mich neulich, ob nicht theoretisch doch eine Möglichkeit auf eine OP bestünde, wenn das Medikament weiterhin so gut anschlägt und die Metastasen so weit verringert, dass man die Hauptbrocken rausschneidet?

Sie: Das kann man nie ausschließen. Es wird in seltenen Fällen tatsächlich gemacht, weil man damit das Risiko eines schnelleren Wachstums verringern kann. Aber Heilung ist deswegen medizinisch weiterhin ausgeschlossen.

Ich: Ich weiß. Das habe ich meinen Freunden auch gesagt. Und ich bin okay damit. Ich habe mich damit abgefunden, mache das Beste daraus.

Sie: Das sehe ich. Und Sie machen das gut. Ihre Ernährung, der Sport – all das hilft. Ihre Werte sind weiterhin sehr gut. Sie haben weiter abgenommen: 69,3 kg. Im Juli machen wir ein CT und ein MRT. Machen Sie bis dahin alles, was Ihnen gut tut.

Ich: Ich habe von Ihrem Kollegen gehört, Sie waren im Urlaub. War’s gut?

Sie: Gut war’s. Entspannend allerdings nicht – mit Kleinkindern nicht anders zu erwarten.

Der letzte Satz war der, der mich am meisten berührte. Diese Ehrlichkeit, mit der sie ihre Privatsituation beschreibt, legt sie auch im Umgang mit Patient:innen an den Tag. Warum die Wahrheit ausblenden, wenn man mit ihr leben muss? Vielleicht erreicht man mehr, wenn man sie anerkennt. So wie sie ihre Kinder nicht weniger liebt, nur weil sie anstrengend sind. Es liegt in ihrer Natur – Kleinkinder sind lebhaft. Und Krebszellen sind aggressiv. Sie wollen sich vermehren. Lasst uns dieser Wahrheit nicht aus dem Weg gehen.

Euer Wortknecht
V. Jakobus Mancini

P.S.
Ich war am Montag in Frankfurt am Main. Neben dem Triptychon in der Station Kirchplatz steht folgender Satz über den Apostel Jakobus:
„Einen festen Platz im Herzen der Menschen gewinnt, wer ihnen dient, nicht, wer über sie herrscht.“
(Matthäus 20,26)

Vielleicht bin ich ein kleiner Mann. Der euch dient, indem er euch mit Worten überhäuft.

Keine Kommentare

Kommentar veröffentlichen

© Vic Mancini on Death Row
Maira Gall