Freitag, 13. Juni 2025

Die Wand

Autor hält Taschenbuch von Marlen Haushofer, Die Wand – Umschlagbild "Tierschicksale" von Franz Marc

Heute geht's mir ein wenig besser als noch zuletzt. Das möchte ich ausnutzen, um ein paar weniger hässliche Worte zu verfassen. Mehr Liebe, die ich eigentlich für euch und das Leben empfinde, wenn ich nicht immer so niedergeschlagen wäre.

Literatur - die ist mir noch geblieben. Und natürlich die Musik. Ich denke, sie wird die letzte sein, die mich verlässt, nachdem sie mich über die Schwelle ins Nichts begleitet.

Aber heute geht's um Literatur! Wie ihr wisst, lese ich. Früher viel mehr als heute. Zehn mal so viel. Dafür schrieb ich weniger. Heute schreibe ich mehr. Zehn mal so viel. Deswegen bleibt nicht mehr so viel Zeit fürs Lesen. Aber wenn, dann genieße ich die Zeilen lieber mit Muße, statt durchzurasen, wie man heutzutage alles zu machen scheint. Überhaupt versuche ich alles mit mehr Ruhe zu machen. Es tut mir gut, muss ich gestehen. Es tut mir gut. Nicht esoterisch. Einfach so. Ich sehe mehr von meiner Umwelt, ich nehme Häuser wahr, an denen ich seit einem Jahrzehnt vorübergehe und nie wirklich gesehen habe. Auch höre ich Textzeilen aus Liedern, dich ich schon zig mal gehört habe und dennoch nie begriffen habe.

Ich möchte auch gern über mein neues Buch sprechen. Aber nicht heute. Heute geht es um ein Buch, das ich bereits vor ein paar Wochen ausgelesen habe und das mich nachhaltig beeinflusst hat. Es wurde von der Österreicherin Marlen Haushofer verfasst, die mir nichts sagte, bevor ich auf diesen Roman stieß:

DIE WAND – ein großartiges Buch, das mir im Blogeintrag "Das Buch überhaupt" empfohlen wurde. War ein Kommentar, ohne Namen. Daher kann ich mich nicht mit einer persönlichen Nachricht für den Tipp bedanken. Also hiermit an dieser Stelle.

Das Buch ist keine einfache Kost. Es hat mich teilweise ziemlich deprimiert, aber es ist doch hervorragend geschrieben und offenbart treffende Beobachtungen, um deren Scharfsinn ich sie beneide. Zwei Beispiele möchte ich nun geben, damit ihr auch nachvollziehen könnt, was ich an Büchern mag und was nicht. Ein negatives Beispiel gebe ich euch gern beim nächsten Mal. Wenn erwünscht, hinterlasst mir einen Hinweis in den Kommentaren oder schreibt mir eine Email über das Kontaktformular.

Hier nun die Zeilen, die mir besonders gefielen:

"Meine Hände, immer mit Blasen und Schwielen bedeckt, waren meine wichtigsten Werkzeuge geworden. Ich hatte die Ringe längst abgelegt. Wer würde schon seine Werkzeuge mit goldenen Ringen schmücken. Es schien mir absurd und lächerlich, daß ich es früher getan hatte. Seltsamerweise sah ich damals jünger aus als zu der Zeit, als ich noch ein bequemes Leben geführt hatte. Die Fraulichkeit der Vierzigerjahre war von mir abgefallen, mit den Locken, dem kleinen Doppelkinn und den gerundeten Hüften. Gleichzeitig kam mir das Bewußtsein abhanden, eine Frau zu sein. Mein Körper, gescheiter als ich, hatte sich angepasst und die Beschwerden meiner Weiblichkeit auf ein Mindestmaß eingeschränkt. Ich konnte ruhig vergessen, daß ich eine Frau war. Manchmal war ich ein Kind, das Erdbeeren suchte, dann wieder ein junger Mann, der Holz zersägte, oder, wenn ich Perle auf den mageren Knien haltend auf der Bank saß und der sinkenden Sonne nachsah, ein sehr altes, geschlechtsloses Wesen. Heute hat mich der merkwürdige Reiz, der damals von mir ausging, ganz verlassen. Ich bin noch immer mager, aber muskulös, und mein Gesicht ist von winzigen Fältchen durchzogen. Ich bin nicht häßlich, aber auch nicht reizvoll, einem Baum ähnlicher als einem Menschen, einem zähen braunen Stämmchen, das seine ganze Kraft braucht, um zu überleben.

Wenn ich heute an die Frau denke, die ich einmal war, die Frau mit dem kleinen Doppelkinn, die sich sehr bemühte, jünger auszusehen, als sie war, empfinde ich wenig Sympathie für sie. Ich möchte aber nicht zu hart über sie urteilen. Sie hatte ja nie eine Möglichkeit, ihr Leben bewußt zu gestalten. Als sie jung war, nahm sie, unwissend, eine schwere Last auf sich und gründete eine Familie, und von da an war sie immer eingezwängt in eine beklemmende Fülle von Pflichten und Sorgen. Nur eine Riesin hätte sich befreien können, und sie war in keiner Hinsicht eine Riesin, immer nur eine geplagte, überforderte Frau von mittelmäßigem Verstand, obendrein in einer Welt, die den Frauen feindlich gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich war. Von vielen Dingen wußte sie ein wenig, von vielen gar nichts; im ganzen gesehen herrschte in ihrem Kopf eine schreckliche Unordnung. Es reichte gerade für die Gesellschaft, in der sie lebte, die genauso unwissend und gehetzt war wie sie selbst. Aber eines möchte ich ihr zugute halten: sie spürte immer ein dumpfes Unbehagen und wußte, daß dies alles viel zuwenig war." (Marlen Haushofer, Die Wand 75f.)

Und später dann:

"Ich hatte mein Haar gewaschen, und es flog mir jetzt leicht und gebauscht um den Kopf. Vom Regenwasser war es weich und glatt geworden. Vor dem Spiegel schnitt ich es kurz, daß es gerade die Ohren bedeckte, und betrachtete mein gebräuntes Gesicht unter der sonnengebleichten Haarkappe. Es sah ganz fremd aus, mager, mit leichten Höhlungen in den Wangen. Die Lippen waren schmaler geworden, und ich fand dieses fremde Gesicht von einem heimlichen Mangel gezeichnet. Da kein Mensch mehr lebte, der dieses Gesicht hätte lieben können, schien es mir ganz überflüssig. Es war nackt und armselig, und ich schämte mich seiner und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Meine Tiere hingen an meinem vertrauten Geruch, an meiner Stimme und an gewissen Bewegungen. Ich konnte mein Gesicht ruhig ablegen, es wurde nicht mehr gebraucht. Dieser Gedanke ließ ein Gefühl der Leere in mir aufkommen, das ich unbedingt loswerden mußte. Ich suchte mir irgendeine Arbeit und sagte mir, daß es in meiner Lage kindisch wäre, um ein Gesicht zu trauern, aber das quälende Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben, ließ sich nicht verscheuchen." (210)

Meine feministischen Interpretationsversuche erspare ich euch. Das könnt ihr auch ohne mich. Die Zeilen sind zu gut verfasst, als dass man sie durch krampfhafte Erklärungsversuche zerstören sollte. Wer so schreiben kann, gehört wahrlich zu den ganz Großen.

Wie sagte doch gleich der olle Haudegen vom Literarischen Quartett? – "Das ist Literatur, die möchte gelesen sein!!"

Ich möchte gestehen, dass ich früher nur selten Literatur von Frauen gelesen habe. Heute lese ich mehr Frauen als Männer. Viel mehr. Vielleicht gebe ich euch das nächste Mal eine Liste von denen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Sag euch auch gern, welche Bücher ich gut fand. Selbst wenn ich mich nicht mehr an den Inhalt erinnere – was mir leider oft passiert, da mein Hirn ganz löchrig geworden ist – so habe ich immer das prevalente Gefühl gespeichert. Das kann ich jederzeit wieder heraufbeschwören bzw. abrufen.

Lasst es euch gut gehen da draußen, wo auch immer ihr seid. Und lest ein gutes Buch!

Euer

Marcel Reich-Mancini

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