Montag, 2. Juni 2025

Nackt auf Papier

Zwei Originalseiten der Morning Pages vom 2. Juni 2025, handgeschrieben vom Autor Victor Mancini – ein persönlicher Einblick in seinen kreativen Prozess.

Wieder und wieder werde ich gefragt – mit einer gewissen Ehrfurcht in der Stimme –, ob es mir nichts ausmache, mich so zu offenbaren. Mein Leben jedem zugänglich zu machen. Indem ich schreibe, was ich denke und fühle, mache ich mich nackt. Begriffe wie „mutig“ oder „bewundernswert“ fallen dann.

Aber tun wir das nicht alle, wir Schriftsteller:innen?
Alles, was wir schreiben, kommt aus uns.

Ob Meinung, Anekdote oder frei erfundene Geschichte – alles in unserem Hirn  produziert. Ich stimme oft nicht mit dem überein, was ich schreibe, weil ich mich in die Charaktere, die ich schaffe, hineinversetze. Aber von mir stammen sie dennoch.

Das Besondere an diesem Blog ist, dass es hier nicht um Fiktion geht.
Ich wünschte, es wäre Fiktion, und ich würde morgen aufwachen und einfach wieder so leben wie früher – bevor ich nach Italien fuhr, um den Roman zu Ende zu schreiben. Ich dachte, das sei eine gute Idee... Wer konnte schon ahnen, dass ich so zurückkomme – reduziert auf dieses Wesen, das übriggeblieben ist.

Gut. Also sage ich hier (meistens) ungefiltert, was ich denke. Krass? Bewundernswert?

Und wenn schon. Ich erzähle euch ja nicht, wie oft ich mir einen runterhole oder in der Nase popel. Nicht, weil ich es verschweigen will, sondern weil ich’s ehrlich gesagt nicht spannend finde. Ich möchte lieber die letzten Tage, Wochen, Monate, Jahre (?) nutzen, um mit euch über Literatur und Philosophie zu reden, über Kunst – im Sinne von Fine Arts. Und natürlich über Musik. Musik! Welch schönes Wort. Schon allein das Wort evoziert die besten Gefühle, selbst wenn es um Schlimmes geht. Ich denke, das Wort Musik klingt in jeder Sprache schön. Denkt ihr nicht?

Ihr dürft alles über mich wissen. Ich habe keine wirklichen Geheimnisse. Mehr.

Deswegen heute etwas Besonderes. Meine Morning Pages. Das Foto oben zeigt die beiden Seiten von vorhin, die ich geschrieben habe. Weil die Schrift unleserlich ist, habe ich sie eingescannt, von Google analysieren lassen und dort korrigiert, wo Buchstaben falsch erkannt wurden. Den Grammatikfehler habe ich mit [sic] markiert, aber drin gelassen. Lest den Text so, wie er euch besser gefällt – handgeschrieben oder digital.

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Mo. 2. Juni 2025 (Tag 167), 8:12: Ich brauche exakt
27 Minuten am Morgen ehe ich mich hinsetze, um diese Zeilen
zu schreiben und meinen Kaffee zu trinken. Zur Routine
gehören: Bauchmuskelübungen, Stretchings der Gelenke, Öffnen
der Fenster, Lüften der Bettwäsche, Lüften der Kissen im
Wohnzimmer, Abräumen des Wohnzimmertischs vom Vorabend,
Kaffeeaufguss, Geschirr wegräumen, Waschen, Pissen, Beine
kalt abduschen, Gymnastikübungen (Kniebeugen, Strecken
auf Zehenspitzen, 2x Schultern, auf einem Bein stehen).
27 Minuten, bevor das erste Schreiben beginnt. Von Hand
schreibe ich diese Zeilen. Unüberlegt, instinktiv, stream-of-con-
sciousness sozusagen. Die Henschnupftablette vergaß ich
zuvor zu erwähnen. Nun trinke ich und warte auf
das, was mir zuerst in den Kopf kommt. Das schreibe ich
nieder. Schon wieder hat jemand gesundheitliche Probleme:
ich höre die Ambulanz. Ich möchte euch schon seit Wochen
über [sic] Literatur erzählen, werde immer wieder abgelenkt.
Von der Familie, vom Körper und seinen Beschwerden,
von Freunden, im Positiven wie im Negativen, vom
wenigen Leben, das mir geblieben ist. Ich werde bei dem
Gedanken traurig. Wie so oft. Und dabei komme ich
mir vor wie ein Heuchler. Denn wie oft habe ich ge-
dacht in den letzten acht Jahren, den Jahren der Ein-
samkeit, seitdem E. weg ist – ich schreibe E. hier
nicht aus, weil ich sie nie ausschreibe, die anderen sonst
schon. Verdammte Scheiße. Ich hab den Faden verloren.
Jedenfalls habe ich oft gedacht, dass ich lieber TOT
wäre. Endlich vorbei. Weil das Leben furchtbar an-
strengend ist. Carlo, mein Kumpel aus Rom, den ich
erst vor knapp zwei Jahren hier über Fernando
kennenlernte, hat mir diese Morning Pages beige-
bracht. Tolles Mittel der Meditation. Alles rauslas-
sen. Der Tod – beschäftigt mich schon mein

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ganzes Leben. Natürlich gilt das für jeden. Klar. Aber
seit Jahren will ich sterben. Wegen der Einsamkeit.
Und nun gibt mir mein Körper die Möglichkeit – zwingt
mich quasi zu meinem "GLÜCK" und ich bin undankbar
und will das Geschenk nicht annehmen. Will leben. Ich
will nicht sterben – verdammte Scheiße! Immer wieder
muss ich an diesen blöden Brief denken. Von der
anonymen Frau. Ich denke, es ist eine Frau, aber was
weiß ich. Nur wegen der Schrift und der Herzchen? Was
bedeutet das schon?! Dass ich in Schubladen denke.
Clichées. Frauen machen sowas, Männer nicht. Giancarlo,
du bist genauso scheiße wie alle. Keinen Deut besser.
Hab ich auch nie behauptet. Fuck. Fuck. Ich hab kein
Bock zu verrecken. Bald fangen dann die Schmerzen an.
Daran will ich gar nicht denken. Wenn dann die erste
Ladung Morphium kommt, weil das scheiß Zeug nicht mehr
wirkt. Nicht scheiß Zeug. Das gute Zeug, gibt mir noch
ein bisschen Zeit. Was weiß die dumme anonyme
Person schon, mit ihren großen Sprüchen: Sterben tut
man "schlussendlich erst ganz zum Schluss" – was
für ein scheiß Satz! Wo hat die Deutsch gelernt.
Gleich noch nen Pleonasmus oder wie man die Scheiße
nennt, wenn sie auch wenigstens bewusst einsetzt, so
als rhetorisches Stilmittel: Schlussendlich zum Schluss
Oder hat sie "am Ende" gesagt? Egal. Und meine
Therapeutin fragt mich noch, ob ich auch mal nicht an
den Krebs denke?! Ha. Dass ich nicht lache. Wie soll
das denn gehen? Man frisst ja den ganzen Tag Tabletten,
legt die Beine hoch, duscht sie ab und guckt sich
im Spiegel an wegen der Pickel, die man behandeln
muss, weil man vorgestern ein Mochi gegessen
hat und die Onkologin sagt nur: "Schade – und dabei
ist Süßes doch geil." Na danke – leck mich doch. 8:42


Trinkt das Bier heute ungefiltert!

Euer 

Victor J. Kerouac


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© Vic Mancini on Death Row
Maira Gall