Damals lernte ich die wichtigsten Binsenweisheiten für mein Leben in Australien:
"Let's play it by ear!"
Ein wunderschönes Sprichwort aus der Musik. Lass uns nach Gehör spielen, sprich improvisieren. Damit drückt man aus, dass man spontan sieht, wie man was macht. Wenn man aus einer Kultur kommt, in der alles durchorchestriert ist und nichts dem Zufall überlassen wird, ist diese Sichtweise auf die Dinge extrem befreiend.
Dazu passt wunderbar:"Close enough is good enough."
Deutschland ist gewollte Perfektion. Perfektion ist das klischeehafte Deutschland. Überall auf der Welt glauben die Menschen immer noch, unsere Bahnen seien pünktlich, unsere Bürokratie sei schnell und effizient, es gäbe hierzulande keine Korruption, unsere Straßen hätten keine Schlaglöcher, unsere Parks wären gepflegt und unsere Architekten würden ihre Bauprojekte in geplanter Zeit vollenden.
Dass dem nicht so ist, wissen wir alle: die hier leben, und die, die mal hier gelebt haben, können ein Lied vom Gegenteil singen: Flughafen BER, Stuttgart 21, Elbphilharmonie, der Radweg vor meiner Haustür.
Doch statt mich dran zu stören, freue ich mich heute darüber. Es macht Deutschland zu einem chaotischen Land. Chaos bedeutet Sympathie. Der australische Ansatz "Close enough is good enough" ist da anders. Annähernde Präzision reicht aus, um etwas zu erledigen. Wenn dann jemand mal etwas perfekt macht, ist es ein Grund zu feiern, statt es vorauszusetzen, um im Frust zu enden. Nach dem Motto: Lower your expectations and you shall be fine.
Als ich neulich wieder da war, lernte ich ein neues Sprichwort:
"A shroud has no pockets." – Das letzte Hemd hat keine Taschen. Geld im Grab bringt niemandem etwas.
Ich habe keine Geldsorgen. Ich habe kaum noch Rücklagen und auch keine Möglichkeiten, dies zu ändern. Demnächst irgendwann sind meine Reserven aufgebraucht. Ich mache mir deswegen keine Gedanken.
Ich habe unheilbaren Krebs. Auf ärztliche Anweisung genieße ich das Leben, solange ich kann. Für mich bedeutet das, die Welt zu bereisen, Freunde zu besuchen, zu schreiben, so viel ich schaffe. Ich gehe in Konzerte, Theater, Museen und Kinos.
Wenn mein Geld ausgeht, dann frage ich meine Freunde. Einige haben angeboten, dass ich mich jederzeit melden kann, andere haben mich bereits unterstützt. Sonst wäre ich nicht in Australien gewesen. Danke nochmal, Y. und A.
Zuletzt gab ich wieder viel Geld aus. Für Musik. Ich habe es tatsächlich geschafft, über eine Freundin, D., noch ein Ticket zu ergattern: RADIOHEAD. Am Dienstag werde ich sie sehen.
Ist es möglich, seine zwei absoluten Favoriten in einem Jahr zu sehen? Nick Cave und Radiohead.
Vor exakt 352 Tagen wurde mir die Zukunft genommen. Seither viele Ängste, Panik, Verzweiflung.
Und doch hatte ich eines der schönsten Jahre meines Lebens: Valencia, A Coruña, Biella und Rom. Irland, Australien und die Philippinen.
Ich sah in Melbourne Cash Savage and the Last Drinks, die Band, die für mich zurzeit alles in den Schatten stellt. Die Frau ist ein Guru, ein Politikum. Wer sie nicht kennt – hör dir das Album "So This Is Love" an.
Ich habe den ersten Entwurf meines Romans beendet. Ich bin stolz auf mich. Ich habe 150 Blogbeiträge geschrieben. Ich habe neue Leute über Schreibtreffs kennengelernt.
Ich habe mit meiner Familie gebrochen.
Ich habe Frieden gefunden.
Euer
Victor Mancini

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