Sonntag, 5. Oktober 2025

Depression im Brecht-Haus

Die Autorinnen Nava Ebrahimi (links, im roten Pullover) und Maha El Hissy (rechts, im dunklen Überwurf mit Mikrofon) sitzen auf der Bühne im Brecht-Haus vor einem orangefarbenen Vorhang. Sie nehmen an kleinen Tischen Platz, auf denen Wasser und Notizbücher liegen. Im Vordergrund sind die Hinterköpfe von Zuschauern einer literarischen Veranstaltung zu sehen.


Weiter im Kontinuum der Krankheit. Mir geht es physisch okay.

Wichtig ist, dass ich es selbst beeinflussen kann, dass ich es ein Stück weit selbst in der Hand habe. Die Hitzewallungen haben aufgehört, seit ich wieder weniger wiege. Je mehr Sport ich mache, desto besser geht’s mir – wenn ich mich auch an den Tagen bewege, an denen ich nicht laufen gehe.

Noch wichtiger ist die Ernährung. Mittlerweile habe ich meinen Metabolismus, meine Verdauung, meinen Magen-Darm-Trakt weitgehend studiert und dadurch unter Kontrolle. Ich weiß, was mit den Medikamenten geht und was nicht.    

Psychisch ist es eine andere Sache. Ich bin k. o. von den Stimmungsschwankungen. Gehe ich zum Schreibtreff, geht es mir gut. Ich arbeite, bin umgeben von Menschen, die nett sind, die ich aber nicht näher kenne. Das ist genau die richtige Dosis an Zwischenmenschlichkeit, die ich ertrage. Dann bin ich den Rest des Tages allein und versinke im Selbstmitleid. Aber ich funktioniere, schreibe weiter, gehe laufen, koche, kaufe ein.

Am Mittwoch war ich bei der Lesung einer Freundin von mir: Nava Ebrahimi. Sie las im Brecht-Haus aus ihrem neuen Buch Und Federn überall. Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis nominiert. Was sie gelesen hat, war sehr, sehr gut. Schön geschrieben, nie langweilig, viele Kanäle bedient.

Was die Veranstaltung angeht, war ich – wie letztens bei Mieko Kawakami – sehr deprimiert. Es war nicht gut für mich. Diese Menschen im Literaturbetrieb sind nichts für mich; dieses intellektuelle Gehabe widert mich zutiefst an. Also nichts Neues, könnte man meinen. Doch das Frustrierende diesmal war, dass ich Nava kannte. Es schuf ein Gefühlschaos in mir. Zum einen fand ich es beneidenswert, dass sie in dieser Position ist: dritter Roman, bei Luchterhand erschienen, Buchpreisnominierung – ganz klar im Literaturhimmel angekommen. Zum anderen hat sie es verstanden, die Leute mit klugen und gleichzeitig humorvollen Aussagen zu unterhalten und zum Nachdenken anzuregen, ohne sich selbst zu verraten. Ich war schwer beeindruckt.

Zuerst glaubte ich, es sei der Neid, der mich schlecht fühlen ließ. Gepaart mit meiner unheilbaren Krankheit kann man nur deprimiert sein. Aber dann fiel mir auf, dass das Problem tiefer sitzt, älter ist als meine jetzige Situation. Ich will nicht daran teilhaben. Es ist nicht mein Ding. Ich würde auf der Bühne sitzen und sagen:
„Was soll der Scheiß? Was sollen diese scheiß Fragen? Wieso lest ihr nicht einfach das Buch – ohne Beweihräucherung und ohne kaschierte Selbstliebe?“
Ich habe nichts gegen eine gute Diskussion, aber der Duktus bei solchen Veranstaltungen, das latent Vornehme, stößt mich ab. So bin ich nicht. Ich würde lieber auf die Couch pissen, laut furzen und ins Mikrofon rülpsen.

Statt danach mit Nava ihre überstandene Veranstaltung zu „feiern“, sagte ich ihr, ich müsse gehen. Ich schaffte es noch zu lächeln beim Abschied. Dann weinte ich den ganzen Fußweg vom Brecht-Haus bis zum Hauptbahnhof.

So viel für heute.

Euer
Victor Mancini 

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Maira Gall