Ich ziehe mich immer weiter zurück – raus aus dem Blog, hinein in den Roman. Nicht, weil ich euch nichts mehr erzählen will, sondern weil ich den ersten Entwurf fertig haben möchte, bevor ich nach Australien fliege. Kapitel 25 und 26 sind abgeschlossen, heute habe ich mit dem letzten begonnen. Das Ende steht.
Ich fühle kurze Momente des Glücks. Dann weine ich – beim Spazierengehen oder einfach so, in der Küche beim Kochen, obwohl ich seit Monaten keine Zwiebeln mehr benutze. Sie tun mir nicht gut. Wie alle Kohlsorten, Bohnen, Knoblauch, Weizenmehl, mein selbstgemachter Kefir, zu viele Milchprodukte überhaupt. Ich habe verstanden, dass alles, was kritisch ist und über kleine Mengen hinausgeht, sofort Konsequenzen für Magen und Darm hat. Solange ich mich an meine Ernährung halte, geht’s mir gut. Ich bin auf 66 Kilo runter, bald wieder da, wo ich mal war. Ich mache jeden Tag Sport – das aber eher, um nicht durchzudrehen.
Heute möchte ich euch zwei Geschichten erzählen, die euch vielleicht gefallen. Zuerst die von gestern. Wie ihr wisst, brauche ich Antidepressiva. Einen Psychiater zu finden – also einen Arzt, der sie verschreiben darf – ist nicht einfach. Über Doctolib bekommst du nur Termine, wenn du Privatpatient oder Selbstzahler bist. Bist du gesetzlich versichert, wartest du drei bis sechs Monate.
Um Suizidfälle zu vermeiden, schreiben manche Hausärzte die Rezepte selbst. Meiner nicht. Kann ich irgendwie verstehen. Beim ersten Mal sollte ein Facharzt das passende Präparat verschreiben. Dafür läuft es so: Man geht zum Hausarzt, bekommt eine Überweisung mit Dringlichkeitsvermerk – das ist ein Code. Mit dem geht man auf eterminservice.de oder ruft 116117 an. Online gibt man den Code ein und sucht sich einen verfügbaren Facharzt oder Fachärztin aus. Ist niemand frei, füllt man ein Kontaktformular aus – dann rufen sie an, sobald ein Termin frei wird.
Bei mir war zufällig ein Termin frei – gleich für den nächsten Tag, also gestern. Ich fuhr mit dem Rad nach Weißensee. Dort erwartete mich eine Praxis, die aussah, als hätte die Inneneinrichtung seit der Maueröffnung kein Tageslicht mehr gesehen. Am Empfang spielte sich ein kleines Drama ab: Ein Mann mit seinem Sohn auf dem Arm wollte sein Rezept, hatte aber die Versichertenkarte vergessen. Entschuldigungen, Rechtfertigungen, Verhandlung, Zurechtweisung, Vergebung – das volle Programm. Nebenbei erklärte er der Sprechstundenhilfe die Haarstruktur seines etwa vierjährigen Sohnes: „Die Mutter ist ein Afro.“ – „Aber die Haut.“ – „Ja, das sieht man kaum, wa?“ Man lernt nie aus.
Als ich schließlich im Besprechungsraum bei einem Arzt mit Doppelnamen saß, durfte ich in fünf Minuten meine Situation zusammenfassen. Die Pointe: Er dürfe mir keine Medikamente verschreiben. Seine Kassenzulassung gelte hauptsächlich für Gesprächstherapie, nicht für medikamentöse Behandlung. Ich müsse einen Psychiater finden, der das darf – angeblich machen das nicht alle. Sein Tipp: bei 116117 anrufen und mit der Person an der Strippe klären, dass der Psychiater zur Fallgruppe 21 gehört, nicht zu 23 wie er selbst. Was auch immer das heißen soll. Jedenfalls war alles für’n Arsch. Erst Überweisung abholen, dann Termin buchen, telefonisch bestätigen, nach Weißensee radeln, alles erklären – und am Ende das. Drei Stunden für nichts. So vergeudet man seine Zeit.
Die notwendigen Psychopharmaka habe ich natürlich immer noch nicht. Wieder ein Grund mehr, dieses Land zu verabscheuen für seine unsagbaren Regeln. Wie absurd. Aber gut – vielleicht ist es am Ende besser so. Dass dieser Quacksalber niemandem Medikamente verschreibt, die mit dem Hormonhaushalt Bowling spielen.
Die zweite Geschichte ist eigentlich keine, sondern nur eine Beobachtung, die mich einmal mehr in meiner größten Lebensentscheidung bestärkt. Beim Meetup am Samstag saß ich zufällig neben einer Regisseurin, mit der ich mich zwischen den Schreibphasen zehn Minuten unterhielt. Sie arbeitet in einer Produktionsfirma – ob für Film oder Fernsehen, ließ sie offen. Jedenfalls nicht als Regisseurin, sondern in der Organisation. So wie alle dort, meinte sie, habe auch sie Regie studiert, sei aber in der Produktion gelandet. Das sei so üblich.
Da musste ich an all die Musiker denken, die an Universitäten oder Konservatorien studierten oder für teure Popakademien viel Geld ausgaben, um das künstlerische Handwerk zu erlernen, eigene Songs schrieben, Bands gründeten, Großes vorhatten – und sich am Ende glücklich schätzten, wenn sie neben Privatunterricht eine Stelle als Studiomusiker oder –noch schlimmer– bei Helene Fischer auf Tour ihr Geld verdienten.
Und wozu das Ganze? Um zu rechtfertigen, dass man das beruflich macht, was man offiziell gelernt oder studiert. Und wofür man vielleicht sogar viel Geld ausgegeben hat. Eine Investition also, die sich gelohnt haben muss. Und genau deswegen die spätere Selbstgeißelung.
Ich hingegen wollte niemals professionell Musik machen, wenn ich mich dafür zum Hanswurst hätte machen müssen. Kein Geld der Welt kann mir meine Liebe zur Kunst zerstören.
Ein Freund war leidenschaftlicher Fotograf. Jetzt fotografiert er Hotels, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er macht es gern, aber mit Kunst hat das nichts mehr zu tun. Für die bleibt keine Zeit und keine Lust mehr.
Genauso wollte eine Freundin immer schreiben — fiction that is. Irgendwann hat sie angefangen, Artikel für ein Magazin zu veröffentlichen, dann Reportagen für eine Lokalzeitung, hin und wieder einen Bericht über die Karnevalssitzung. Am Ende ist das kreative Schreiben völlig auf der Strecke geblieben.
Ich habe das nie zugelassen, auch schon vor der Krankheit nicht. Ich habe mich bewusst fürs Unterrichten entschieden – als Kompromiss, der funktionierte. Ich mochte es, Menschen beizubringen, was sie lernen wollten. Deswegen auch kein Lehrer für Kinder. Die wollen nämlich nicht lernen. Zumindest nicht alle. Ein paar vielleicht schon, aber die meisten muss man erst motivieren. Und Motivieren ist mir zu anstrengend.
Wenn ich etwas gerne mache, ohne dass es meine Leidenschaft ist, kann ich nach getaner Arbeit all meine kreative Energie in meine Projekte stecken. Nun, da ich krank bin, fehlt mir das Unterrichten. Das muss ich gestehen. Ich weine gerade beim Schreiben dieser Zeilen.
Lasst es euch gut gehen da draußen!
Euer
Victor Mancini
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