Eine Leserin fragte mich, ob ich nicht die in Here comes the Prozac erwähnten Tricks verraten könnte, bei akuten Belastungsreaktionen oder Panik im Anflug. Gern teile ich sie mit euch, auch wenn wir hier nicht von Raketenwissenschaft reden. Es sind ganz einfache, dennoch sehr hilfreiche Tipps. Ihr habt sie bestimmt schon mal gehört – ich kannte sie, ehrlich gesagt, nicht:
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Konzentriere dich für kurze Zeit, vielleicht zwei Minuten, auf deinen Atem. Atme dabei halb so lange ein, wie du ausatmest – Beispiel: zähle beim Einatmen bis vier und beim Ausatmen bis acht. Schon nach ein paar Wiederholungen fühlst du dich besser.
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Lenke beim Anflug von Panik oder Angst deine Gedanken bewusst nach außen, weg von deinem Inneren. Beispiel: Du sitzt auf der Couch und schaust dir die Dinge in deinem Umfeld an. Was steht auf der Fensterbank, im Regal, neben dem Tisch auf dem Boden? Du wirst merken, wie du allmählich ruhiger wirst.
Beide Tricks habe ich gestern Abend auch wieder angewendet. Ich erhielt eine Nachricht, die mich aufwühlte: Jemand beim Lesetreff, vielleicht auch mehrere, habe sich darüber beschwert, dass ich zu leidenschaftlich meine Meinung kundtue. Ich würde über Bücher urteilen, die andere lesen, sie mies machen und sie dadurch schlecht fühlen lassen. Außerdem störte sich eine – vielleicht dieselbe – Person daran, dass ich nachfragte, warum sie ausgerechnet einen norwegischen Autor auf Japanisch liest, statt eine japanische Autorin. Für mich war das eine echte Frage: Ich sagte ihr, dass ich sie um ihre Sprachkenntnisse beneidete und wollte wissen, warum. Ihre Antwort machte ja auch Sinn – Kinderbuch, einfachere Sprache. Aber sie fasste es wohl als Kritik auf.
Ich habe darüber nachgedacht und muss gestehen, dass ich in allen Anklagepunkten schuldig bin. Ich habe nachgefragt, auch gerne spielerisch provokativ. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass ich ihnen Vorgaben machte, was sie zu lesen haben. Aber für manche sind Leute wie ich, mit klarer Meinung, eben anstrengend. Sie wollen, dass alles an der Oberfläche bleibt. Ich aber will Diskurs. Sag mir, was du denkst und fühlst. Kritisier das Buch, das ich lese. Sag mir, dass du es scheiße findest – und warum. Lass mich etwas lernen. Sag mir deine Gedanken, damit sie zu neuen Überlegungen führen. Wenn alle nur dasitzen und fünf Minuten lang zusammenfassen, was sie gelesen haben, ohne Passion, ohne Enthusiasmus – dann schlafen mir die Füße ein.
Am Ende bleibt lediglich die bittere Erkenntnis, dass ich selbst unter Lesenden die Minderheit bin. Selbst wenn andere in der Gruppe so denken sollten wie ich und den Diskurs genossen, werden sie ohne mich weiterlesen müssen. Vielleicht werden sie sich beim nächsten Mal wundern, warum ich fehle. Aber das liegt in der Natur von "Meetup": man nimmt nur an Treffen teil, wenn man sich frühzeitig anmeldet. Sonst ist der Platz schnell vergeben. Und für die Organisatorin bietet sich dadurch immer die bequeme Begründung, ohne das Feedback erwähnen zu müssen.
Es gibt jetzt sicher einige unter euch, die denken, ich solle über meinen Schatten springen, nicht beleidigt sein, nur weil mich jemand kritisiert hat. Stimmt. Dachte ich auch noch gestern Abend. Aber dann wurde mir klar, dass ich keine Lust habe, dazusitzen und meine Euphorie zu bremsen, nur weil manche keine Leidenschaft für Literatur haben. Da sagte die Japanisch-Lesende doch tatsächlich, sie möge eigentlich gar nicht wirklich lesen. Sie lese nur Mangas. Und ich soll Rücksicht nehmen, mich zurücknehmen? Während neben ihr auf dem Tisch der neue Roman von Chimamanda Ngozi Adichie, Dream Count, lag?
Nein, dann lese ich lieber allein, zähle beim Atmen ein und aus und betrachte die Blätter meiner sterbenden Pflanze.
Zum Schluss noch die letzten beiden Bücher, die ich gelesen habe
a) Denk dir die Stadt – Kurzgeschichten der bosnischen Autorin Lejla Kalamujić
b) Hunchback von der japanischen Autorin Saou Ichikawa
Das erste Buch fand ich fantastisch. Die Geschichten sind mal herzerwärmend, mal brutal, mal abgründig. Wer keine Kurzgeschichten mag, hat hier ein Problem. Aber die Prosa ist unfassbar gut. Definitiv eine Empfehlung.
Das zweite Buch war interessant, aber streckenweise sehr anstrengend zu lesen. Ich habe die englische Ausgabe, weil ich nicht wusste, dass es schon eine deutsche gibt. Vielleicht lag es daran. Vielleicht wird mein Englisch schlechter, einhergehend mit den kognitiven Schwächen, die ich im Beitrag Kognitives Massaker beschrieb. Das Lesen des Buches war bedrückend. Es hat ein sehr unangenehmes Gefühl in mir zurückgelassen. Das Buch handelt von einer jungen Frau mit angeborener Myopathie, die in einem Pflegeheim lebt und online erotische Geschichten schreibt. Der Roman hat in Japan für großes Aufsehen gesorgt, weil er sich auf offene und provokante Weise mit den Themen Behinderung, Sexualität und Verlangen auseinandersetzt.
Hier ein krasses Zitat:
"I want to get pregnant, then have an abortion. I can't imagine a foetus growing properly inside this crooked body of mine. I guess I couldn't withstand labour either. And of course, taking care of a baby would be out of the question for me. But I could get pregnant and have an abortion like anybody else. There's no issue with my reproductive functions. So I'd like to experience what that's like. My ultimate dream is to get pregnant and have an abortion, just like a normal woman." (S. Ichikawa, Hunchback, 18)
Here's my sign-off for today: Read a good book, which makes you laugh and cry, makes you think about yourself. And you will live. Or not!
Oder wie Franz Kafka sagen würde: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Euer
Victor Mancini
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