Donnerstag, 21. August 2025

Kognitives Massaker

Straßenszene in Berlin mit mehreren Radfahrern im Vordergrund, dahinter die Backsteinmauern und der Zaun der Justizvollzugsanstalt Moabit bei sonnigem Wetter.

Vieles geht mir durch den Kopf. Ein einziges Durcheinander da oben. Ich möchte euch daran teilhaben lassen. Vorgestern telefonierte ich mit meinem Freund D. Das ist der, mit dem ich neulich in Irland war. Ich erzählte ihm von meinen neuen Erkenntnissen über mich. Sie beunruhigen mich, gehören aber zugleich zu meinem neuen Leben. Kann nichts dagegen machen. Might as well accept and include them instead of pushing them away, wie man so schön sagt.

1. Ich habe leichte bis mittlere Schmerzen, die sporadisch auftauchen. Immer da sind die Druckschmerzen am Morgen, wenn ich aufwache: unter den Füßen, an den Sohlen, als hätte jemand Nervengift in die Hornhaut geschossen. Auch da: Schultern. Also Schmerzen darin – Nadelstiche bei den falschen Bewegungen. Dachte erst, die wären schon immer da. Stimmt auch, gewissermaßen. Aber jetzt haben sie eine andere Qualität. Sie kommen von den Medikamenten.

Am schlimmsten sind die kurzen, kaum merkbaren Schmerzen in der Brust, von denen ich absolut nicht weiß, was sie bedeuten. Sind sie intramuskulär oder ist es tatsächlich der Krebs, der da drinnen wütet bzw. aufbegehrt, weil das Lorviqua ihm den Garaus macht? Letztlich zählt nur eins, denn wirklich schlimm sind sie nicht: Ich muss mit ihnen leben. Und das geht auch. Aber sie zermürben. Sie machen mich fertig. So banal es klingen mag – ich geh daran kaputt.

2. Ich habe Angstzustände, die ich früher nicht hatte. Am Montag war ich in einer Schreibgruppe in Neukölln und fuhr danach ins Schwimmbad. Ganz andere Liga als das Drecksloch in Kreuzberg: sauber, die Menschen höflich und hilfsbereit. Und es war kaum was los. Kann an der Uhrzeit gelegen haben, glaube ich aber nicht. Ich schwamm mit vier weiteren Leuten auf einer offenen Doppelbahn – niemand kam sich je in die Quere, der Umgang war respektvoll. Insgesamt einfach toll.

Und trotzdem bekam ich irgendwann Panik, ich müsse absaufen. Ich, der jahrelang zwei Kilometer am Tag schwamm. Ich, der anderen half, ihre Technik zu verbessern. Ich, dem Schwimmen leichter fiel als ein Ei zu braten – und das kann ich mit geschlossenen Augen und einem Tonnenkater nach dreizehn Mezcal.

Da wurde mir klar: Es stimmt was nicht mit mir. Ich bin krank. Und es ist nicht mehr nur mein Körper, der in Mitleidenschaft gezogen wird.

3. Am Beckenrand fielen mir zwei Episoden ein, die das untermauerten. Beim Buchclubtreffen am Sonntag – übrigens sehr schön – unterhielten wir uns nach dem stillen Lesen über die Bücher. Eines davon: Poverty, by America von M. Desmond. Interessierte mich ehrlich gesagt null, löste aber eine hitzige Diskussion aus: relative Armut, hohe Steuern in Kalifornien, magere Sozialleistungen, all das.

Ein Guatemalteke aus der Gruppe ergriff das Wort und sprach lange. Ich verstand nichts. Absolut gar nichts. Als er mich schließlich ansah, sagte ich, dass ich ihm leider nicht folgen könne. Ich dachte noch: liegt sicher daran, dass er so wirr erzählt. Also fragte ich in die Runde: Sorry but can you follow him. I need to know.

Alle starrten mich an. Und bestätigten dann, einstimmig, dass sie genau verstanden hätten, wovon er sprach. Acht Leute am Tisch, alle hatten verstanden. Nur ich nicht. Ein Schock. Das war mir noch nie passiert. Das hat mich zerschmettert.

Am Montag in der Schreibgruppe sprach eine amerikanische Künstlerin über abstrakte Konzepte. Während ihr Gegenüber sofort in die Diskussion einstieg, gab ich zu, dass ich keinen blassen Schimmer hätte. Dass ich kein Wort verstanden und nichts davon gespeichert hätte. Auf dem Heimweg fielen mir unzählige Momente ein, in denen ich in letzter Zeit ähnliche Erfahrungen gemacht habe.

Dann dachte ich an meine Onkologin des Todes, Frau V., wie sie mich jedes Mal fragt, ob ich neben physischen auch kognitive Nebenwirkungen habe. Morgen, wenn ich sie wiedersehe, kann ich zum ersten Mal sagen: ja..

Gestern kamen mal wieder Nachrichten von Freunden, die alles nur schlimmer machen. Sie schlagen Treffen vor. Treffen sind für'n Arsch. Sie vergleichen dann mit ihren eigenen Geschichten – nur sind es gar nicht ihre. Es sind die von Leuten, die in ihrem Umfeld verreckt sind. Die meisten alt, oder mindestens fünfzehn Jahre älter als ich. Ich will diese Geschichten nicht hören.

Sie kapieren nicht, dass das falsche Anteilnahme ist. Meine Freundin J. ist beleidigt und meldet sich nicht mehr. Mein Bruder sowieso. Alle beleidigt, wie kleine Kinder. Als ob ich nicht von Anfang an gesagt hätte: ICH KANN AUF EURE BEFINDLICHKEITEN KEINE RÜCKSICHT NEHMEN – FUCK OFF! Glaubt ihr nicht? Hier, lest nach. Der Blog lügt nicht. Schon im ersten Beitrag The Dawn of a New Day stand:

Wem der Inhalt zu negativ ist, braucht ihn nicht zu lesen. Folgt mir nicht, wenn ihr meint, ich gehe zu hart ins Gericht. Wer denkt, ich sei ungerecht oder würde nicht auf verletzte Eitelkeiten Rücksicht nehmen, kann mich mal. Schert euch zum Teufel, wenn ihr so denkt. Ich habe keine Zeit für Heuchelei oder Rücksichtnahme. Das tut mir auch nicht leid. Ich kann meine Situation nicht ändern, ich habe sie mir genauso wenig ausgesucht wie ihr.

Und so werde ich noch einsamer sein als schon vor der Krankheit. Auch wenn ich erst in Jahren sterbe.

V. M. 

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Maira Gall