Seit meiner Rückkehr aus den Philippinen schreibe ich wieder. Jeden Tag, so viel ich kann. Ich sitze an der zweiten Fassung des Romans. Die Überarbeitung läuft gut, aber es ist unvorstellbar viel zu tun. Nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich. Einen Roman in Teilzeit zu schreiben, führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu nichts. Die Qualität eines umfangreichen Werks leidet, wenn man sich nicht ausschließlich damit beschäftigt.
Die ersten zweieinhalb Jahre Arbeit am Roman waren so schlecht, dass ich mich fast dafür schäme. Einiges funktioniert nicht mehr, anderes ist überflüssig, vieles fehlt schlichtweg. Seit meiner Krankheit schreibe ich so viel besser, dass die frühen Teile kaum noch mit dem jetzigen Stand vereinbar sind. Trotzdem lasse ich den Kopf nicht hängen. Ich arbeite den Berg Stück für Stück ab. Ich hoffe, es wird eine gesunde Geburt.
Physisches:
Mein linker Oberschenkel schmerzt seit Wochen. Es fühlt sich an wie ein leichter Bluterguss, also nichts Dramatisches. Aber man sieht nichts, und der Schmerz bleibt gleich. Das beunruhigt mich. Zuerst dachte ich, ein Skorpion hätte mich auf Siargao gebissen. Aber nein, das würde abklingen. Und weil ich keinen gescheiten Hausarzt habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als den nächsten Termin bei der Onkologin abzuwarten. Das knabbert an mir.
Emotionales:
Ich habe Radiohead gesehen. Das Konzert ist immer noch präsent, im Guten wie im Schlechten. Ich sehe alles vor mir: die Jungs, die Bühne, die Screens. Wie erwartet waren sie bombastisch. Leider ist der Funke nicht ganz auf mich übergesprungen. Vielleicht, weil mir die Location nicht gefiel. Der Sound war zu matschig, wo ich stand. Und die runde Bühne stand mitten im Raum, weshalb man sich für eine Seite entscheiden musste. Wir haben uns für die falsche entschieden, sahen den Schlagzeuger bis zur Zugabe nur von hinten.
Aber fünfundzwanzig Songs, über zwei Stunden Live-Musik, das war mehr als ich mir erträumt hatte. Und dann bekam ich gestern eine Tabelle mit allen Setlisten dieser Tour. Unfassbar: Sie wählen aus einem Pool von über fünfzig Songs. Das heißt, sie müssen sie jederzeit abrufbereit haben. Songs von dieser Komplexität. Ich könnte nicht mal zwanzig davon im Kopf behalten. Ob das als Berufsmusiker anders wäre, weiß ich nicht. Trotzdem bin ich schwer beeindruckt. Ungeachtet der negativen Aspekte bin ich sehr glücklich, Radiohead gesehen zu haben.
Psychisches:
Ich habe verstanden, dass mein Bruder niemals über seinen Schatten springen wird. Weil er nicht anders kann. Das eigentliche Problem ist für ihn längst abgehakt. Stattdessen zählt für ihn nur noch, dass ich es hier im Blog bespreche. Dass ich damit versuche, es zu verarbeiten, kann er nicht nachvollziehen. Für ihn ist entscheidend, dass ich ihn hier als Schurke darstelle, ohne dass er sich verteidigen kann. Um seinen Stolz zu wahren, bleibt ihm nur, sich nicht zu entschuldigen für den Bockmist, den er gebaut hat. Nein, er erwartet sogar eine Entschuldigung von mir.
Früher hätte ich es über mich ergehen lassen und wäre des Friedens willen nach Hause gegangen. Ich hätte gedacht: Wer die Psychologie versteht, kann verzeihen und über den Dingen stehen. Gut gefahren bin ich damit nie. Ich ging immer unbefriedigt aus Familienkonflikten hervor. Also lasse ich es bleiben. Seit dem Krebs habe ich keine Kraft mehr, ihre zwischenmenschlichen Defizite auf meinem Rücken austragen zu lassen. Ich weigere mich zu glauben, dass sie schlechte Menschen sind. Aber sie sind blind für das, was so etwas mit einem macht. Sonst würden sie nicht so handeln. Meine Familie würde es noch schaffen, mich ungewollt umzubringen. Ich gehe lieber meinen Weg allein. Das ist einsam, aber es tut weniger weh.
Traurig macht mich, dass mein Bruder womöglich in einer Zwickmühle steckt. Er kann weder vor noch zurück. Wäre er allein und müsste niemandem gegenüber seinen Stolz wahren, wäre er vielleicht einsichtig. Aber so ist es für ihn unmöglich. Sein Stolz steht ihm im Weg. Er ist ihm wichtiger als seine Beziehung zu mir. Alles ist für’n Arsch.
Ich könnte natürlich hingehen und ihm den Gefallen tun. Aber das würde sich falsch anfühlen. Und wozu sollte das gut sein? Die Atmosphäre wäre noch angespannter und verlogener als sie ohnehin immer war. Jeder Blick vorwurfsvoll. Muss ich mir das geben, nur um ihnen entgegenzukommen? Dafür sollen meine Metastasen wieder stärker werden?
Die Situation ist mittlerweile zu zerfahren, um noch irgendwas zu retten, das schon vorher nie wirklich gut war. Wie sollte man sich in Zukunft begegnen? Sie können nicht anders. Und ich will mich nicht mehr verbiegen.
Schon allein Weihnachten. Ein einziges Klischee. Ich wurde nie gefragt, was mir gefällt, weil ich sowieso als Idiot gelte. Was ich denke und fühle, ist abartig, und mein Geschmack ist krank. Wenn man sich in meiner Familie weigert, einen Film synchronisiert auf Deutsch zu schauen, ist man ein arrogantes Arschloch. Mein Bruder bestimmt Ort und Art des Feierns: wann und was gegessen wird, wann diese verkackte Bescherung (wie ich sie hasse) stattfindet. Er duldet keine Widerrede. Nicht mit Argumenten, sondern mit beleidigter Fresse. Und er zieht es dann einfach durch. So auch diesmal. Nein, das mache ich nicht mehr mit. Besser, wenn man sich in Ruhe lässt.
Leid tut es mir um meinen Vater. Er bekommt zwar (in diesem Fall kann man sagen: glücklicherweise) nichts mehr mit, aber ich würde trotzdem gern in Kontakt mit ihm bleiben, ihn vielleicht sogar sehen. Und leid tut es mir um meine Mutter, auch wenn sie so sensibel ist wie Roseanne Connor. Sie ist in der Situation völlig überfordert und muss sich auf die Seite meines Bruders schlagen, weil sie von ihm abhängig ist. Und er denkt in solchen Kategorien: Bist du nicht auf meiner Seite, dann fahr halt das nächste Mal allein zum Arzt.
So ist das bei mir. Da werden die Messer geworfen. Solange sie nicht töten, wurden sie nie geworfen. Mental scars are invisible.
Euer
Victor Mancini

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