Es wirkt, als würde ich mich hier schleichend zurückziehen. Vielleicht ist es ein unbewusster Prozess. Vielleicht bin ich auch nur müde von mir selbst – und von meiner Krankheit. Vielleicht habe ich einfach begriffen, dass der Krebs „verblassen“ muss. Vielleicht kann ich lernen, ihn streckenweise zu ignorieren, indem ich ihn nicht ständig thematisiere.
Alles fing mit dem Kommentar von einem Alex an, einem Leser, den ich nicht kenne. Einer der vielen „klugen“ Ratschläge der letzten dreihundert Tage. Er hat mich getroffen. Meine Therapeutin reagierte darauf etwas „sauer“, soweit Therapeutinnen das überhaupt können. Sie hatte mir von Anfang an geraten, die Kommentarfunktion auszuschalten – weil gut gemeinte Ratschläge ja meist trotzdem scheiße sind.
Falls ihr euch nicht erinnert: Ich meine den Kommentar zu meinem angeblichen Selbstmitleid – das sei doch kontraproduktiv. Und deswegen fing ich an, hier weniger von meinen Gefühlen zu berichten. Die Traurigkeit ist natürlich immer noch da. Aber ich behalte sie häufiger für mich. So wie viele in diesem Land lieber still trauern. Damit begann der allmähliche Rückzug.
Es hatte auch etwas Gutes. Ich habe mich voll und ganz auf meinen Roman konzentriert und mein Ziel erreicht: den ersten Entwurf vor der Australienreise fertigzustellen. Geschafft! Ich bin stolz wie Bolle. Der Roman ist im Kasten. In meinem Ordner habe ich nachgesehen und festgestellt, dass die allerersten Notizen aus dem Juni 2020 stammen. Damals legte ich die Idee jedoch beiseite und schrieb stattdessen Kurzgeschichten – auch, weil es mir nicht gelang, den ersten Roman zu veröffentlichen. Die Agentur fand wegen Covid und anderer Gründe keinen Verlag. Ich war deprimiert, dann depressiv.
Meine Therapeutin riet mir damals, den Kopf nicht hängen zu lassen und es weiter zu versuchen – bei unabhängigen Verlagen statt bei den großen Publikumsverlagen. Im Mai 2022 war es dann soweit: Bloß weg erschien.
Erst danach konnte ich die alte Idee wieder aufgreifen und einen zweiten Roman schreiben. Der zweite Roman gilt ja als der schwierigste, weil man an sich zweifelt und nicht weiß, ob man überhaupt das Zeug dazu hat, wirklich Schriftsteller zu sein. Auch wenn mein Buch noch lange nicht fertig und veröffentlicht ist, weiß ich jetzt – da die Geschichte endlich auserzählt ist –, dass ich es kann. Ich bin Schriftsteller von ganzem Herzen.
Der zweite Roman ist wohl deshalb so schwierig, weil sich der Druck verlagert: Bei Erfolgsautoren kommt er von außen. Ich hingegen musste mir selbst beweisen, dass ich Disziplin habe, dranbleibe, besser werde. Und dass ich trotz des Misserfolgs weiterglaube, dass meine Geschichten es wert sind, erzählt zu werden. Mein erster Roman war kein Erfolg, auch weil der Verlag scheiße war – kein Lektorat, null Werbung. Ich mag das Buch trotzdem, aber es ist meilenweit von dem entfernt, was ich heute schreibe.
Nun befinde ich mich in einem kleinen Schreibloch. Beim Kaffeetrinken schreibe ich zwar weiterhin meine drei handschriftlichen Morgenseiten, aber mit der Überarbeitung möchte ich erst in Australien beginnen. Also nutze ich die Gelegenheit, euch zu schreiben, wie es mir geht und was diese Woche passiert ist – eine ziemlich intensive Woche seit meinem letzten Eintrag.
Am Sonntag war ich im Tempodrom beim Konzert von All Them Witches. Sie waren gut, vor allem die Stimme des Sängers trifft mich ins Mark. Ihre Alben höre ich gern, wenn ich durch die Stadt ziehe, zu Fuß oder auf dem Rad. Aber live war es nicht so meins. Zu viel Gitarre. Früher mochte ich das, heute nicht mehr. Ich war noch nie ein Fan von Jam-Sessions. Improvisiertes Gedudel ist mir zu anstrengend. Lieber Songs, die vom Zusammenspiel der Instrumente und vom Gesang leben – oder von ungewöhnlichen Arrangements, nicht von virtuosem Spiel.
Am Montag rief mich eine Frau vom Jobcenter an. Sie sagte, mein Sachbearbeiter sei krank, und sie habe stattdessen meine E-Mail gelesen und sich meinen Fall angeschaut. Ich hatte geschrieben, dass ich für fünf Wochen nicht in Berlin bin, aber nur für vier Wochen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bekomme – weil das gesetzlich so geregelt ist. Obwohl ich gar nicht arbeitssuchend bin. Obwohl ich meinen Antrag auf Erwerbsminderung bei der Rentenversicherung gestellt und das Sozialamt informiert habe. Ich hatte dem Jobcenter alle Bestätigungsschreiben zugesandt.
Sie sagte – wider Erwarten –, dass sie das versteht. Keine Beanstandung, keine Belehrung, keine Kritik. Sie habe einfach einen Vermerk in meiner Akte hinterlegt. Ich solle nur wieder eine AU-Bescheinigung besorgen, sobald ich zurück bin. Ich könne schließlich nicht mehr machen und sei ja auch nicht auf Jobsuche.
Nicht nur, dass sie die Logik meiner Argumentation teilte – sie war so unfassbar nett und sympathisch, dass ich nie wieder einfach vorverurteilen möchte. ICH BIN GELÄUTERT!
Am Montag hatte ich ein MRT vom Gehirn, am Mittwoch ein CT vom Torso. Angenehm war beides nicht. Am schlimmsten ist für mich immer dieses eklige Kontrastmittel, das einen völlig durchläuft.
Gestern folgte dann das Gespräch mit meiner Onkologin des Todes. Das erste, was sie sagte, war: „Zuallererst zu den Scans – alles gut! Keine Veränderung gegenüber der letzten Untersuchung. Weiterhin minimale Residuen im Hirn und dieselbe Größe des Tumors in der Lunge.“
Ein Stein fiel mir vom Herzen.
Diesmal saß ausnahmsweise eine Pneumologin dabei, eine Kollegin, die ich nicht kannte – vielleicht in Ausbildung. Nach der guten Nachricht nervte ich meine Ärztin erneut damit, endlich Menschen kennenlernen zu dürfen, die ebenso wie ich sterben müssen. Also keine Krebspatient:innen in den Stadien 1–3, sondern hoffnungslose Fälle der Palliativmedizin. Zwecks Austausch. Wie immer keine Hilfe von ihrer Seite. Sie nennt mir zwar keinen Grund, aber ich nehme an, sie darf meine E-Mail nicht einfach weitergeben – wegen der ärztlichen Schweigepflicht.
Die Pneumologin, die ich nicht kannte, googelte währenddessen. Suchbegriffe: „Krebs“, „Palliation“, „Influencer“. Sie fand zwei Frauen.
Die erste wirkte etwas stressig, aufgebracht, küsste ihren Freund vor laufender Insta-Kamera aus Dankbarkeit. Aber sie sagte: „Ich dachte, palliativ bedeutet Endstation – doch mittlerweile weiß ich: Auch mit Krebs im Stadium 4 kann das Leben weitergehen. … Hier habe ich erfahren, dass Menschen schon seit zehn, elf, zwölf, dreizehn Jahren den Status palliativ haben und damit gut leben können.“
Die zweite war Susanna Szoter, bekannt als Krebskriegerin. 2015 wurde bei ihr mit 28 Jahren Darmkrebs diagnostiziert. Nach sechs Runden Chemo- und Bestrahlung gab man sie auf; sie solle sich darauf einstellen, bald zu sterben.
Kurz vor dem Ende fand man für sie die Möglichkeit einer Immuntherapie. Sie schlug sofort an und stellte ihr Leben fast vollständig wieder her. So wie bei mir – ich war total angetan von ihrer Geschichte.
Seither lebt sie ihr Leben, wissend, dass es jederzeit vorbei sein kann. Dennoch reist sie wie verrückt durch die Welt und gibt nicht auf. Und sie schreibt darüber, geht in die Öffentlichkeit. Nach dem, was ich bisher gelesen und gehört habe, glaubt sie natürlich nicht an Heilung – wie naive Horstis vielleicht annehmen würden. Nein, sie weigert sich einfach, den Kopf hängen zu lassen. Stattdessen will sie so viel wie möglich „mitnehmen“.
In einem Video sagt sie, sie möchte nicht als diejenige in Erinnerung bleiben, die viele Überstunden gemacht hat, sondern als die, die verrückte Sachen erlebt hat. Also ist sie 240 Kilometer auf dem Jakobsweg gegangen. Und war, als es ihr sehr schlecht ging, sogar mit dem Rollstuhl in den Alpen unterwegs. Dann hat sie die Trolltunga in Norwegen geschafft, 25 Kilometer gewandert und hatte am Abend Fieber. Diese Frau ist tough.
Ich auch. Ich bin im September im Thüringer Wald fast 40.000 Schritte an einem Tag gewandert. Ich habe jemanden gefunden, mit der ich mich solidarisieren kann. Wie mit Ulrich und Babsi, die sich mal gemeldet hatten. Ich werde wieder von ihnen hören – wenn das Schicksal es so will.
Ich würde mich gern mit der Krebskriegerin unterhalten. Leider ist sie seit Mai 2024 nicht mehr im Internet aktiv – sie ist abgetaucht. Ich hoffe, der Krebs hat sie nicht doch besiegt. Aber selbst wenn: Sie hat immerhin noch zehn Jahre bekommen.
Ich mache es nicht anders. Ich lasse den Kopf nicht hängen. Ich kämpfe weiter, mache Sport, ernähre mich gut, arbeite viel, reise, treffe Freunde.
Im Unterschied zu ihr habe ich keine familiäre Unterstützung. Mit meinem Bruder habe ich gebrochen. Mit meiner Mutter spreche ich nur noch selten. Mit meinem Vater noch seltener. Das ist kein Selbstmitleid, sondern eine Tatsache.
Mein Bruder wird immer schlimmer, sieht keine Fehler bei sich, manipuliert stattdessen meine Mutter, die sich gegen mich stellt und mir vorwirft, ich würde mich aus der Familie zurückziehen. Sie hat recht. Ich ziehe mich zurück – aber um mich zu schützen, nicht um sie zu bestrafen. Wenn man mit hinterhältigen Intrigen konfrontiert ist, sollte man sich schützen. Dazu riet mir schon der Onkopsychologe im Vivantes Anfang des Jahres. Er hatte recht. Ich befolge seinen Rat.
Aber ich lasse mir diese Vorfreude nicht nehmen. Ich fliege nach Australien. Am Montag geht’s los. Und danach warten die Philippinen – Siargao, um genau zu sein. Ich freue mich. Komme was wolle. Ich bin gewappnet. Der Krebs kriegt mich nicht klein.
Als ich am Donnerstag den Besprechungsraum der Klinik verließ, blieb ich an der Tür stehen, drehte mich um und sagte zu meiner Onkologin, dass wir gemeinsame Bekannte hätten.
Sie war verdutzt.
Ich: Nava, die Schriftstellerin.
Sie: Unglaublich – Sie kennen Nava?
Ich: Ja. Als ich sie vor 25 Jahren kennenlernte, wusste sie noch nicht, ob sie Journalistin wird. Heute ist sie eine bekannte Autorin.
Sie: Wer weiß, wo Sie in 25 Jahren sind.
Sie lächelte aufrichtig. Kein Versprecher. Die Kollegin daneben auch. Ich schloss die Tür. Jetzt war ich verdutzt.
Was meinte sie damit?
Victor Mancini

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