Sonntag, 9. November 2025

Weil es so kommen musste

Der Autor in einem dunklen Kapuzenpullover und dunklen Hosen steht frontal am Strand, mit den Händen in den Taschen. Er blickt leicht lächelnd in die Kamera. Hinter ihm erstreckt sich das Meer mit sanften Wellen unter einem dramatischen, wolkenverhangenen Himmel bei Dämmerung oder Sturm, durchbrochen von einem schmalen Streifen hellerem Licht am Horizont. Der Sand im Vordergrund ist dunkel.

Schlafende Hunde sollte man besser nicht wecken. Ich habe das Sprichwort nie angewandt, weil ich nie viel damit anfangen konnte. Aber heute war es das Erste, was mir einfiel, als ich diesen Beitrag zu schreiben begann.

Versteht mich nicht falsch. Ich bin froh, hier zu sein. Es ist gewissermaßen noch schöner als damals – wenn schöner das ist, wonach man sucht. Die kaputten Gebäude von früher wurden restauriert oder ersetzt, Lücken zwischen Häusern gefüllt. Um das zu finanzieren, brauchte man Investoren. Die wollten Rendite. Es ging nur ums Ausschlachten. Die Stadt war ihnen egal.

Man nennt es Gentrifizierung. Jeder kennt das. Viele leiden darunter. In Berlin, wie an unsagbar vielen anderen Orten. Es ist zum Kotzen. Aber ohne gesetzliche Regulierung nicht aufzuhalten. Ist der Schaden einmal angerichtet, lässt er sich nicht mehr rückgängig machen.

Ich wollte es nicht glauben, aber es stimmt. Bezahlbarer Wohnraum in Zentrumsnähe existiert in Melbourne nicht mehr. Die Leute, die ich kenne, ziehen nach Reservoir im Norden, nach South Melbourne oder ganz raus – Castlemaine.

Stellt euch vor, ihr lebt zwanzig Jahre in Kreuzberg und müsst plötzlich nach Rheinsberg ziehen, jeden Tag mit dem Zug in die Stadt fahren. Mehr als eine Stunde pro Fahrt. Mein Kumpel macht das täglich.

Auch ich habe es gespürt, als ich in mein altes Lieblingscafé ging: das Tin Pot Café. Früher saß ich dort stundenlang auf einem Armlehner am Fenster und schrieb. Damals herrschte reger Verkehr. Die studentische und alternative Kunstszene kam und ging. Die Kellnerinnen sahen aus wie das Publikum, setzten sich an die Tische, quatschten kurz, bevor sie neue Gäste bedienten. Ich liebte das.

Heute sieht es aus wie im Prenzlauer Berg. Das Publikum ist nicht nur wohlhabend, sondern alt. Kaum jemand unter siebzig. Als ich den jungen Kellner auf Preise und Publikum ansprach, zuckte er mit den Schultern. Das sei jetzt überall so, sagte er – in Fitzroy, Brunswick, Northcote, Thornbury. Alle schönen Gegenden aufgekauft und überteuert. Die coolen Bars und Konzertpubs schließen nach und nach, können die Mieten nicht mehr zahlen.

Ist es vielleicht doch besser, nicht an geliebte Orte zurückzugehen, um alte Erinnerungen nicht zu trüben? 

Schön dagegen war letztes Wochenende am Strand. Das Wetter war ziemlich schlecht – es regnete, stürmte, war kalt (auch in Melbourne die meiste Zeit!). Trotzdem war ich glücklich, das Meer zu sehen. Der Südliche Ozean ist wild und kalt, aber wunderschön. Nicht so ein Kackmeer wie die Ostsee, die man in Deutschland verklärt, weil man kaum Alternativen hat. Was sind Ost- oder die Nordsee gegen diesen ungestümen Ozean? Was das Meer betrifft, ist Deutschland echt gefickt. Aber es kann nicht alles haben.

Man hat den Strand fast für sich. Selbst bei bestem Wetter im Sommer teilt man ihn mit dreizehn oder neunundzwanzig Leuten. Und die sitzen so weit verstreut – man bräuchte ein Megaphon, um sich zu verständigen. Der Sand ist weicher als ein Babyarsch und die Sonne grillt dir das Gehirn weg. Wenn sie scheint. Und das Gehirn nicht längst vom Tumor aufgefressen wird.

Gestern lag eine Robbe da, die zu leiden schien. Eine Rangerin oder Tierärztin filmte sie, um zu entscheiden, ob sie sie töten oder einfach dem Lauf der Dinge überlassen sollte. Die Flut würde sie holen. Was dann mit ihr passiert, weiß nur das Gesetz des Ozeans.

Wir hatten zwei Tage im Beachhouse meines Kumpels und seiner Familie. Es stand wie alle Häuser in Fairhaven auf Stelzen am Hang. Dahinter ein kleiner Wald mit richtigen Bäumen – nicht die, die man vor dreißig Jahren gepflanzt hat. Verschiedene Eukalyptusarten, australische Akazien. Der Garten ist so groß, dass man darin joggen könnte, wenn er nicht am Hang läge. Das Haus selbst: supergemütlich, mit Kamin und riesigem Balkon. Morgens Königssittiche und Kakadus, die uns besuchen, und Känguruhs beim abendlichen Spaziergang.

Während man in Deutschland aus einer reichen Familie stammen oder viel verdienen müsste, um sich so etwas zu leisten, hat der Vater meines Kumpels als einfacher Telstra-Mitarbeiter (australische Telekommunikation) ein Haus in Melbourne und dieses Beachhouse samt Grundstück im Laufe eines Lebens abbezahlt. Ohne Erbe. In Deutschland undenkbar.

Ich habe auch meine alten Mitbewohner gesehen: J. und J. waren wie immer. Als hätte ich sie gestern erst getroffen. Sie verarschte ihn, und er machte sich über alles und jeden lustig. Ein Humor, den ich hier leider nicht in Worte fassen kann – es würde zu lange dauern. Aber schön war’s, sie wiederzusehen, Zeit mit ihnen zu verbringen.

Ich habe vieles begriffen auf dieser Reise. Der Platz meiner Freunde ist hier. Meiner aber ist in Berlin. Ich habe endgültig verstanden, warum ich damals gehen musste. Entscheidungen sind immer richtig. Alle. Es kommt so, wie es kommen soll. Ich bin froh, dass alles so gekommen ist, wie es ist.

Dass ich mich damals entschied zu studieren, obwohl meine Eltern dagegen waren. Ich setzte mich durch, finanzierte mein Studium selbst. Weil es so kommen musste. Ich ging nach Italien, dann nach Australien. Weil es so kommen musste. Ich verließ Australien, ging nach Berlin, wo ich endlich wieder Musik machte – meine Kunst war down under verkümmert. In Berlin wurde ich kreativer denn je. Ich war Teil einer Band, gründete meine eigenen, komponierte wie wild, machte Aufnahmen. Weil es so kommen musste.

Ich gründete eine Sprachschule, machte sie erfolgreich, verkaufte sie. Ich konnte endlich nur noch Kunst machen. Weil es so kommen musste.

Und nun der Krebs: auch er hat seine Berechtigung. Es erwischt so viele. Warum nicht mich? Weil es so kommen musste. Ich mache mir nichts mehr vor. Was wäre, wenn … ist für’n Arsch. Ich bin glücklich über jeden Tag, an dem ich keine Schmerzen habe.

Nie mehr werde ich in der Zukunft leben – weil ich keine mehr habe. Ich wollte immer durch Meditation lernen, im Hier und Jetzt zu sein, keine Zukunftspläne mehr zu machen, nicht einmal an etwas zu denken, das eine Stunde vor einem liegt. All die Stunden des Sitzens und bewussten Atmens haben nicht vermocht, was der Krebs mir letztlich beigebracht hat. Insofern bin ich ihm fast dankbar. Lieber ein kürzeres Leben voller Bewusstsein, als nie zu dieser Erkenntnis zu kommen.

Weil es so kommen musste.

Victor Mancini

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Maira Gall