Sonntag, 16. November 2025

Letzte Tage in Melbourne

Kakadu sitzt auf Holzballustrade. Im Hintergrund Bäume.

 

Noch drei Tage, bevor ich Australien wieder den Rücken kehre. Die letzte Woche suchte ich weitere Orte von damals auf. Am Freitag kaufte ich in Op Shops auf Sydney Rd. ein, endete im Retreat Hotel, wo ich eine Big Band sah. Am Samstag war ich bei All India Radio im Northcote Social Club. Eine wunderbare Post-Rock-Band aus Tasmanien. Gestern war ich in Edinburgh Gardens, wo ich mit M. sonntags Fußball spielte. Wie schön dieser Park ist. Nicht zu vergleichen mit unserem Görli.

Ob ich zum letzten Mal hierherkomme, lässt sich schwer sagen. Höchstwahrscheinlich schon. Selbst wenn ich noch drei bis vier Jahre überleben sollte, weiß ich nicht, ob ich mir eine solche Reise nochmal leisten kann, sowohl finanziell wie körperlich. Trotz aller Veränderungen und der horrenden Preise, trotz mangelnder Unabhängigkeit bei der Familie meines Freundes in Reservoir, trotz bescheidenen Wetters, habe ich jede Minute genossen. Selbst die Erkältung hat mich nicht runtergezogen.

Als ich im Januar 2005 nach Melbourne kam, war Hochsommer. Ich wohnte die erste Woche bei der zuständigen Lehrerin von Mill Park Secondary College, Jaclyn, wo ich für ein Jahr als Teaching Assistant arbeiten würde. Sie drückte mir einen Schlüssel in die Hand, überließ mir für eine Woche ihre Wohnung in Heidelberg, weil sie mit ihrer Familie nach Queensland flog, um die Schwester beim überregionalen Schwimmwettbewerb zu unterstützen. Ich war überfordert und glücklich zugleich. Ich musste mich nicht mit ihr auseinandersetzen. Gleichzeitig war ich in einem ganz anderen Land am Ende der Welt in einer riesigen Stadt, in die Berlin flächenmäßig achtmal hinein passte. Berlin hat sich seit damals nicht vergrößert, ist konstant bei 892km² geblieben, während Melbourne mittlerweile mehr als elfmal so groß ist und knapp zwei Millionen Menschen mehr zählt.

Ich suchte mir damals in der ersten Woche ein Zimmer in einer Wohnung in Brunswick, einem Suburb nördlich des Stadtzentrums. Das Zimmer mit eigenem Badezimmer kostete wöchentlich $85. Ich hatte für den einfachsten Job der Welt 2000 Dollar im Monat. Eine solche Ratio hatte ich nie wieder. Es war paradiesisch. Ich hatte ein perfektes Leben, bereiste mit meinem Kumpel M. den ganzen Kontinent.

Wir fuhren mit dem Auto zum Uluru ins Outback. Für die Fahrt ins Landesinnere und zurück hatten wir zwei Wochen Schulferien. 5.000km. Ein Monster-Roadtrip. Genial.

In anderen Ferien fuhren wir die Westküste Western Australias hoch, von Perth nach Exmouth; beim nächsten Mal von Darwin über Katherine Gorge nach Broome. Auch Tasmanien, vielleicht der schönste Ort Australiens, sahen wir uns gemeinsam an. Nur Queensland bereisten wir getrennt, weil seine damalige Freundin zu Besuch war. An Wochenenden ging's mal mit dem Auto nach Sydney und in die Blue Mountains oder wir sahen uns ausgiebig Victoria an: Great Ocean Road, Philip Island, Wilson's Prom, the Grampians. Ich habe noch nie so viel in einem Jahr gesehen. Es war fantastisch.

Wir sahen graue und rote Känguruhs, Koalas, Wombats, Wallabys, Quokkas, Fledermäuse und Vögel aller Art (Papageien: Lorikeets, Rosellas, Galahs, Kakadus; Kookabaras, Ibisse, ausgewachsene Keilschwanzadler, Emus, sogar einen prähistorischen Kasuar uvm.), wilde Pferde, Varane, Echidnas, Schlangen, Dingos und sogar ein Kamel (die Briten und ihr idiotischer Import von Tieren und Dingen, die nicht einheimisch sind!!). All diese Tiere sahen wir in freier Natur, nicht im Zoo. Bei Dingo, Kasuar und Varan hatte ich ein wenig Angst, sonst nicht.

Als ich allein in Queensland war, machte ich einen Tauchschein in Cairns, sah Haie, Riesenschildkröten, Barracudas, Mantarochen und kleine Stingrays, Seepferdchen, Tintenfische, Oktopusse und unfassbar viele Fische. Ich wanderte im Regenwald und segelte mit 23 besoffenen und ultrasympathischen Iren um die Whitsunday Islands, stand an Whitehaven Beach, dem vermutlich schönsten Strand der Welt (schaut nach und entscheidet selbst!).

Nach einem Jahr Australien wollte ich bleiben. Wer nicht? Ich fand einen Weg, bekam Job und Visum, hätte für den Rest meines Lebens dort bleiben können. Ich versuchte es, doch der Preis war zu hoch. Ich musste dafür 250km in Landesinnere fahren und in einer Kleinstadt namens Wangaratta leben und arbeiten. Es hat mir das Rückgrat gebrochen. Der Ort war konservativ, ohne jeden Stimulus. Bis auf meine Mitbewohnerin, die ich bis heute mag und gestern getroffen habe, gab es hunderte Gründe, weshalb ich mich jede Sekunde wegsehnte. Ich ging schwimmen, um zu überleben. Ich schwamm wie ein Irrer jeden Abend zwei Kilometer, um geistig gesund zu bleiben, nicht körperlich. Am Wochenende fuhr ich nach Melbourne, wie ein Freigänger, nahm exzessiv Drogen und trank Alkohol wie andere Wasser. Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Ich versuchte alles, was möglich war, um die Diskrepanz zwischen meiner Liebe für Melbourne und meinem miserablen Leben in Wangaratta zu überwinden. Mein Reisepartner M. war nach dem ersten Jahr wieder zurückgegangen, machte Referendariat in Berlin. Also bereiste ich mit meinem neuen Kumpel C. Neuseeland, oder fuhr allein, nach Thailand, Kambodscha, Vietnam, traf M. wieder in Singapur und Malaysia. Aber es half alles nichts. Ich wollte in Melbourne sein, hätte erst nach vier Jahren gedurft. Also gab ich auf, zog nach Berlin, wo ich bis heute geblieben bin.

Was ich bis heute nicht weiß, ist, ob es der Ort allein war. Wangaratta. Oder der Job. Oder beides. Als Lehrer an einer High School zu arbeiten, ist nichts für mich. Das habe ich verstanden. Nein, das ist untertrieben. Es hat mich kaputt gemacht und bis heute seine Spuren hinterlassen. Die Idylle ist fake. Ich sitze hier in Reservoir, in "suburban Melbourne". Die Vögel im Garten, der Darebin Creek Trail sind mehr Idylle als ich brauche. Von hier aus bin ich in einer halben Stunde mit der Bahn in der kultivierten Zivilisation. That is what I need.

Dörfer und Kleinstädte sind nichts für mich. Mein Leben lang haben sie mich verfolgt.

Ich bin in einem Dorf von 6.000 Einwohnern aufgewachsen, das ich stets gehasst habe. Dieses Dorf hat mir sogar meine Familie weggenommen, denn mit dem Streit über meine Beisetzung in diesem Dorf fing alles zwischen meinem Bruder und mir an.

Dann schickte die Uni Mainz mich nach Dodgeville in Wisconsin. Der Name ist nicht erfunden. 4.000 Einwohner, die Schule hatte 450 Schüler:innen. Man zahlte mir $25 pro Woche. Ich lebte mit 24 bei einer merkwürdigen Familie. Ich war gefühlt der einzige Mensch im Alter zwischen 20 und 30. Aber es waren nur sechs Monate. Dafür hatte ich danach sechs Wochen Reise durch acht Staaten in den USA, einem Land fernab vom hasserfüllten Trumpistan.

Wenn ich Deutschen erzähle, dass ich aus Goddelau stamme, lachen sie. Der Name klingt seltsam, hat was Schwäbisches. Die Australier lachen, wenn ich ihnen von Dodgeville erzähle. Dodgy heißt hier schäbig, runtergekommen, zwielichtig. Die Amerikaner lachen, wenn ich ihnen von der Abkürzung für Wangaratta erzähle: Wang heißt Schwanz.

Goddelau, schäbiger Schwanz – mein Schicksal?

Ich habe trotz meiner Krankheit Frieden gefunden in Berlin. Mir geht es gerade gut hier in Melbourne.

Gleichzeitig habe ich weitere Brücken abgebrochen, indem ich ehrlich zu Freunden in Europa war. Ich kann und will mich einfach nicht mehr verstellen. Wenn ich enttäuscht bin, mit dem Verhalten von Freunden nicht einverstanden, dann sage ich, was ich fühle. Ich habe weder Kraft noch Lust, unehrlich zu sein. Ich stoße wieder und wieder auf, verprelle Leute damit. Mein Umfeld reduziert sich drastisch. Am Ende blüht mir womöglich die totale Einsamkeit. Wem meine Reaktion zu heftig erscheint, wendet sich ab. Dann ist es so. Mit unangebrachtem Stolz kann ich nichts anfangen. Wer kein Verständnis für meine Enttäuschungen aufbringen kann, ist mir keine Hilfe. Zum Sterben brauche ich keine Hilfe.

Mein Bruder hätte sich für sein Hintergehen entschuldigen können – ich hätte ihm verziehen. Aber er ist zu stolz, zieht es vor, meine Mutter und meine Nichte zu manipulieren. Wie in einer RTL-Vorabendserie redet er ihnen ein, ich sei wie mein alkoholkranker und gewalttätiger Onkel, um sie von mir zu entfernen. Wie sie darauf kommen, kapiere ich nicht. Klassisches victim blaming. Die verbliebene Zeit werde ich wohl ohne familiäre Unterstützung verbringen müssen.

Immer mehr Freunde wählen ebenso die Abkehr von mir, weil ihnen meine Erwartungshaltung zu viel abverlangt. Ich verstehe, dass es anstrengend ist. Ich bin ihnen nicht böse. Ich will nur nicht mehr mitmachen. Also reduziert sich mein Freundeskreis auf die, die empathisch sind und am ehesten nachvollziehen können, wie es mir geht. Sie bieten mir keine Pseudohilfe an, sondern sind für mich da, wenn ich sie brauche.

Diesen Freunden möchte ich heute danken. Ihr wisst, wer gemeint ist. Heute, hier in Melbourne, ist mir aufs Neue bewusst geworden, wie oft ihr an mich denkt, wie oft ihr mir schreibt, in Gedanken bei mir seid. Ihr habt verstanden, dass sich durch meine veränderte Situation auch die Art der Kommunikation verändert hat. Während es früher kein Problem war, auch mal sechs Monate nichts voneinander zu hören – war man im Herzen nicht stets beieinander?! – so können zwei Tage im Leben eines Krebskranken alles verändern.

Ich brauche seit Beginn der Diagnose vor elf Monaten ein kurzes Reinhören, ein gelegentliches "Wie geht's?" Was mir früher nicht wichtig war, ist heute fundamental. Ohne Unterricht in meinem Alltag, ohne Bandproben, ist der Kontakt zu anderen Menschen auf ein Minimum geschrumpft. Laut Psychologin sind Familie und Freunde wichtiger als alles andere in so einer Zeit.

Meine Familie hat sich bereits verabschiedet. Der Stolz meines Bruders lässt ihn nicht mehr zurück. Meine Mutter ist überfordert, ist in ihrer Hilflosigkeit sehr verletzend. Einige meiner Freunde sind auch raus. Sie kümmern sich um anderes.

Es soll hier aber nicht um die gehen, die sich abwenden, sondern um die, die sich um mich kümmern. Ich danke euch von Herzen. Vielen, vielen Dank.

Liebe Grüße aus Melbourne

Victor Mancini

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Maira Gall