Samstag, 2. August 2025

Resteverwertung

Ein roter Beutel mit Salzbrezeln, zwei rote Pappbehälter mit Essen zum Mitnehmen, ein Plastikbeutel mit Speiseresten und ein Plastikbeutel mit reifen Bananen stehen auf einem alten Heizungskasten in einem Hausflur.

Wie man im Bild sehen kann, wirft man bei uns Essen nicht so gern weg. Grundsätzlich eine gute Sache, aber appetitlich sieht das nicht aus, was da jemand aus dem Haus hinterlassen hat. Ich jedenfalls habe nicht zugelangt, auch nicht bei den Bananen, die sicherlich noch gut genug sind für einen Shake.

Irland

Ich möchte nicht mit euch über Essen reden, vielmehr über das Verwerten von Resten. Die restliche Zeit verwerten. Morgen geht's mal wieder auf Reisen. Diesmal nach Irland. Ich wollte mich aber mit verschiedenen Themen melden, die mich beschäftigt haben und es noch immer tun.

18.411 Tage ungetrübt

Zuerst zum letzten Beitrag. Ich habe viele Rückmeldungen bekommen. Manche sagten, er sei der beste, manche der heftigste gewesen. Auf jeden Fall war’s krass, die Freddy-Files zu lesen. Mein Freund C. meinte, sie zeigten perfekt, was man sich alles ausmalt – wie viele verzweifelte und oftmals dumme Erklärungen man sich gibt, wenn man hilflos ist, nicht mehr weiterweiß, nicht versteht, was mit einem passiert. Vielleicht kennt ihr das, auch ohne, dass es dabei um Krebs ging.

Mir selbst fällt es schwer, sie zu lesen. Am Freitag bei meiner Therapeutin las ich ihr ein paar Stellen daraus vor. Je länger ich las, desto öfter musste ich schlucken. Hatte einen Kloß aus Herz im Hals.

Aber ist es nicht das, was auch Literatur ausmacht? Die ungeschönte Wahrheit, wenn sie einen ins Mark trifft, man weinen muss, weil man das Gefühl hat, gerade etwas berührt zu haben, das größer ist als man selbst. Als ich diesen Dialog mit Freddy damals schrieb, habe ich nichts formuliert, nichts für ein Publikum geschrieben. Es war die pure Verzweiflung eines Menschen, der allein in Italien in seiner Wohnung saß und nicht weiter wusste.

Kommentar

Zweitens: Ich habe mal wieder einen Kommentar erhalten, den ich nicht so unmoderiert auf der Seite lassen möchte. Denn er ist hässlich und gehässig. Die anonyme Person – möge sie Frieden finden! – postete folgendes unter dem Beitrag „Kaltes Wasser hilft nicht bei Fett“:

„…und durch die ganze nervige Bürokratie kannst du 10 x im Jahr in Urlaub fahren. Das ist ja richtig kacke du armer Mensch da wäre ich auch sehr deprimiert und genervt vom System.“

Ich möchte folgendes dazu sagen: Ich mache keinen Urlaub. Ich reise, um Menschen zu besuchen. Dass es dort auch schön ist, ist für mich zweitrangig. Diesmal geht es nach Irland, ja. Aber ich fliege mit meinem Freund D., den ich sehr selten sehe, manchmal zwei ganze Jahre nicht. Er finanziert die Reise auch. Das Sozialamt wollte sie nicht bezuschussen.

Viel wichtiger ist jedoch, dass ich den Gedanken sehr hässlich finde. Ich kann mir vorstellen, dass es dir, wer auch immer du sein magst, schlecht geht. Aber du kannst mir glauben, dass ich lieber auf jede Reise verzichten würde, wenn ich dafür mein altes Leben zurück hätte. Eines ohne Todesurteil. Ich möchte lieber leben und nicht reisen, statt so oft zu reisen, um mich von allen zu verabschieden. Denn so fühlt sich jeder „Urlaub“ an: wie Abschied.

Wer wirklich so denkt, dem sage ich: Lies meinen Blog nicht! Wer so denkt, ist von Neid zerfressen und hat keine Empathie.

Buchhändlerkeller

Drittens: Gestern war ich bei einem Schreibtreffen. Es wirkte wie aus der Zeit gefallen. Ich wartete die ganze Zeit darauf, dass jemand den Joke auflöst. Grotesk, was die Veranstalter da abgezogen haben.

Zu Beginn saßen fünfzehn Leute im Kreis. Vor allem alte weiße Männer. Nach und nach kamen vier weitere dazu. Die Idee: Freiwillige lesen ihre Texte vor. Jede:r bringt genug Kopien mit, damit alle mitlesen können. Danach gibt’s Feedback von denen, die was sagen wollen. Klingt erstmal okay.

Was den Abend zur Groteske machte, war ihre Penibilität: Sie führten Protokoll, befragten jede:n einzeln, ob jemand etwas mitgebracht hatte. Es wurde gestritten, wer vorlesen durfte – die Zeit würde ohnehin nicht für alle reichen, wenn jede:r drankäme. Dabei wollten die meisten gar nicht. Dieses Protokollieren, dieses Gezetere – wie beim Jahrestreffen eines Briefmarkensammlervereins.

Und dann kamen die Texte. Die ersten zwei Gedichte – von einer betagten Frau – waren sehr schön. Ich kann sonst nicht viel mit Poesie anfangen, aber sie waren gut. Vor allem das zweite: tiefgründig, handelte vom Neid einer Mutter auf die Zeit ihrer Kinder, die sie selbst nicht mehr hat.

Aber welch Zeitverschwendung danach. Statt das Feedback auf ein, zwei Leute zu begrenzen, die wirklich was Konstruktives sagen können, fielen sie wie Hyänen über sie her. Einer schlug ihr ernsthaft vor, ein Fragezeichen einzubauen – dabei hatte sie bewusst auf jegliche Zeichen verzichtet: kein Punkt, kein Komma, keine Großschreibung. Totale Reduktion. Klarer Fokus auf das Wort.
Lächerlich, solche Kritik.

Und so ging es weiter. Den ganzen Abend. Die Metastasen meldeten sich bei jedem Beitrag.

Am schlimmsten war ein Schnösel, Kategorie Versicherungsvertreter. Verteilte sein destruktives Feedback wie ein livrierter Croupier im Crown Casino. Auf Deutsch wie auf Englisch – hatte ich erwähnt, dass dieser Verein zweisprachig ist? Der Vorsitzende (ja, die haben tatsächlich einen Vorsitzenden!) sprach ein deutschakzentuiertes Englisch, das mir Schauer über den Rücken jagte. Drumherum die Amerikaner: some cocky, some nice. Beim Schatzmeister, einem chubby Typ mit Nirvana-Shirt, war ich unschlüssig. Nett, höflich – ja. Aber auch widerlich, wie er dauernd den Finger in die Luft streckte. Zur Wortmeldung. Im Ernst: Wortmeldungen! Wie in der Grundschule. Ich wartete nur noch auf den Donkey aus Shrek, der auf- und abhüpft: “Pick me! Pick me!”

Ich kam mir vor wie im Kasperletheater.

Sie tagen einmal pro Monat, jeweils am ersten Freitag von 19-22 Uhr, falls ihr interessiert seid. Im Buchhändlerkeller Künstlerhaus Alt-Lietzow in Charlottenbug. Sie machen auch eine Pause. Zum Glück. Denn da verließ ich sie. 

Sláinte!

Euer 
Victor Joyce

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