Montag, 24. November 2025

Das genaue Gegenteil von Nepotismus

Eine unbefestigte Straße in einem philippinischen Dorf auf Siargao, die beidseitig von einfachen Wohnhäusern und Hütten gesäumt wird. Die Häuser bestehen aus einer Mischung von Beton, Holz und Wellblechdächern. Im Hintergrund sind Palmen und ein grauer, bewölkter Himmel zu sehen. Die Straße führt in die Tiefe und ist schmutzig, links und rechts stehen Pflanzen vor den Grundstücken.

Lernt man auf Reisen mehr über sich selbst als über die Kultur, die man kennenlernt?

Ich bin seit nicht einmal zwei Tagen an der Küste im Nordosten von Siargao, einer tropischen Insel der Philippinen. Es regnet jeden Tag, wenn auch nicht durchgehend. Es ist Regenzeit.

Am Samstag, als ich ankam, hatte es schon geregnet und fing erst wieder an, als ich schlafen ging. Gestern schien den ganzen Tag die Sonne – ich ging mehrmals baden. Beim zweiten Mal dachte ich nicht an die Ebbe. Ich musste immer weiter raus, um mich nicht auf Korallen aufzuspießen oder etwas zu beschädigen. Trotzdem riss ich mir an Korallen und Felsen die Haut auf und holte mir ein paar blutige Kratzer am Bein. Ich rettete mich, indem ich einen weiten Bogen schwamm, zur einzigen Stelle mit etwas Sand. Dort waren die Einheimischen. Viele Kinder, ein paar Erwachsene, die mich misstrauisch musterten. Vor allem die Frauen. Ihr Blick sagte: Was willst du hier? Das ist unser Strand. Da vorne gehörst du hin.

Ich ging in den Angriff über und sprach mit dem sympathischsten der Männer. Er erzählte, sie würden den freien Tag mit den Kindern genießen, morgen sei wieder Schule. Erst da merkte ich, dass Sonntag war. Seine Frau rief ihn, und er ging. Ich auch.

Es war mein zweiter Kontakt mit den Einheimischen, mein erster war Edison, dem Fahrer, der mich tags zuvor vom Flughafen abgeholt hatte.

Den Abend ließ ich allein mit einem Bier am Strand ausklingen. Meeresrauschen, meeresberauscht. In der Nacht fing es an zu stürmen und hörte nicht mehr auf.

Gerade ist es windig und regnet in mein Zimmer. Taifun Signal 1, sagen sie. Schwach für sie, für einen Mitteleuropäer heftig. Ich kann nichts unternehmen – und es stört mich nicht. Ich brauche nichts zu tun. Ich kann in Ruhe nachdenken, schreiben, mich ausruhen. Australien war schön, aber auch anstrengend. Ich brauche mehr Ruhephasen als früher. Ich bin schon 51. Und ich habe unheilbaren Lungenkrebs.

Eigentlich wollte ich mir heute ein Moped mieten und mit Jason, dem US-Amerikaner und einzigen Gast hier, durch die Gegend fahren, schöne Orte aufsuchen: Rockpools, Wasserfälle, Bananenplantagen, einsame Strände. Der Regen zwingt mich stattdessen zu Gelassenheit und Kontemplation.

Ich werde gleich lesen. Ob ihr es glaubt oder nicht – ich habe in vier Wochen keine hundert Seiten geschafft. Nur ein schlechtes Hörbuch von Murakami gehört: Killing Commendatore. Es hat mich enttäuscht. Ich frage mich, ob er schon immer so klischeebeladen geschrieben hat, voll altmodischer Vorstellungen von Mann und Frau, oder ob nur dieses Buch so misslungen ist. Früher habe ich seine Bücher verschlungen. Was, wenn ich eines davon wieder lesen würde und es genauso furchtbar fände? Würde es mir mit anderen einstigen Lieblingen genauso gehen? Ein trauriger Gedanke.

Ist es das Alter, das einem die vergangene Liebe vergrämt, oder die Krankheit? Geht es allen so – oder nur mir? Und was genau ist es, das ich früher überlesen konnte und das mir heute aufstößt? Wie ihr merkt: nachdenkliche Stimmung, aber kein Trübsinn. Ich wette, dass ich Franz Kafka, Kent Haruf, John Steinbeck, Henry Miller, Ernest Hemingway und Fjodor Dostojewskij auch heute noch genial finden würde. Trotz des Sexismus, trotz imperialistischer Ideen. Weil ich aus ihren Büchern philosophische und psychologische Einsichten gezogen habe, die ich sonst selten fand. Literatur von Frauen habe ich erst später gelesen – und war überrascht, wie viel besser sie war. Und wie unbegründet meine alte Annahme, Männer seien überlegen. Alles, was ich bis dahin gelesen hatte, war hervorragend: Toni Morrison, Jeanette Winterson, Beryl Bainbridge, A.S. Byatt. Trotzdem hatte mein Hirn bestanden auf: Männer sind besser. Heute denke ich anders. Aber die paar Lieblinge, die mich geprägt haben, möchte ich ungern aufgeben. Murakami habe ich womöglich verloren.

Das Lesen fällt mir schwerer als früher. Vielleicht kann ich mich nicht mehr so konzentrieren. Vielleicht kommt es vom Schreiben. Heute möchte ich aber lesen. Der Regen kommt mir zu Hilfe.

Bevor ich also für heute Schluss mache, erzähle ich euch eine Anekdote, die mit meiner Ausgangsfrage zu tun hat: Lernt man auf Reisen mehr über sich selbst als über die Kultur, die man kennenlernt?

Ich galt unter meinen Freunden immer als extrovertiert, einer, der wie ein offenes Buch über sich spricht. Ich nehme selten ein Blatt vor den Mund und lerne gern. Alles Mögliche – vom Rasenmähen bis zur fernöstlichen Philosophie – am liebsten rede ich dafür mit anderen Menschen. Ich frage, bin direkt und komme schnell mit ihnen ins Gespräch. Hier hat mir das wieder mal zu einer Erfahrung verholfen, die ich mit euch teilen möchte:

Gestern Nachmittag wollte ich einen Eiskaffee trinken und anschließend zum Sari-Sari Shop gehen. Man müsse nur die Straße hochgehen, sagte man mir, man würde ihn schon finden. In meiner westlich geprägten Vorstellung und Erfahrung von zig Reisen dachte ich an einen kleinen Minimarkt, vielleicht wie ein Späti in Berlin. Ich wurde eines Besseren belehrt.

Ich wohne hier in einem Resort. Ihr dürft euch das nicht fancy vorstellen, sondern eher einfach: ein Tisch und zwei Holzbänke am Strand, dazu die Bollox Beachbar mit Billardtisch und greller Bürobeleuchtung, alles weiß und so gemütlich wie eine italienische Billotrattoria aus den 80ern, deren Einrichtung seitdem nie erneuert wurde – obwohl das Resort erst nach dem Taifun vor vier Jahren gebaut wurde.

Eine der Putzfrauen – Diday, Mittvierzigerin – bot mir in kaum verständlichem Englisch an, mich zu begleiten, weil sie ohnehin nach Hause wollte. Sie wohne dort, wo die Sari-Sari seien.
Ich sagte: "Sure, but I want to drink some iced coffee first."
Sie: "No problem, I wait."

Ich trank, wir gingen los.
Sie fragte: "Do you want to see my house?"
Ich: "Sure, where is it?"
Sie zeigte nach vorn, wir gingen weiter. Plötzlich tauchte eine Art Dorf vor uns auf, das ich nicht wirklich auf dem Schirm hatte. Auf der Karte wirkten die Straßen wie eine weitere Hotelanlage. Stattdessen: ein Dorf. Noch nie habe ich so viele Kinder auf der Straße spielen sehen, selbst als ich klein war und Kinder noch draußen spielten, statt mit Tablets. Zwischen ihnen Hunde und Katzen, auch Hühner. Auf einem Moped thronte ein Hahn, von der Sorte, die mich früh morgens weckt.

Dann die ersten Häuser. Leute standen oder saßen davor. Vor allem die Kinder starrten mich an. Eine Mischung aus Neugier und Ehrfurcht in ihren Augen, ein wenig Abneigung bei den Erwachsenen. Dann Didays Haus. Wir traten ein. So etwas von innen zu sehen, war mir noch nie vergönnt. Ein Häuschen aus Pappe und Leisten, keine Glasfenster, nur Maschendraht. Es wirkte, wie ein DIY-Puppenhaus, nur größer. Ich wünschte, ich hätte mich getraut, ein Foto zu machen. Aber es erschien mir unhöflich.

Sie entschuldigte sich für die Unordnung, obwohl ich keine erkennen konnte – dafür sah alles zu ungewohnt aus. Gleich am Eingang war eine Art Lager, in dem sie ihre leeren Wassergallonen aufbewahrte. Ein Junge kam, wollte sie abholen. Ich half ihr, ihm die leeren Plastikbehälter auszuhändigen. Es waren bestimmt dreißig Stück. Diese Gallonen sieht man überall auf den Philippinen; sie sichern das Trinkwasser.

Dann waren da vier winzige Zimmerchen, je zwei übereinander, verbunden durch eine einfache Balustrade aus Latten. Ich sah nicht hinein. Sie bot es mir auch nicht an. Jedes Zimmer war vielleicht vier Quadratmeter groß. In der Küche gab es eine Feuerstelle und zwei Kochplatten. Die Platten für den Reis und das Feuer für den Fisch.

Diday stellte mir ihren Bruder vor, dessen Töchter ins Haus kamen. Die Kleine weinte, weil die Große sie geärgert hatte. Der Sohn saß vor dem Haus und spielte mit dem Smartphone. Also auch hier!

Wir verließen das Haus, gingen einen anderen Weg durch schmale Gassen, an all den ungleichen Behausungen vorbei, die bei uns nicht mal im Schrebergarten durchgehen würden. Zurück auf der Hauptstraße kamen wir zu einer Bude mit zwei Fenstern, durch die man, ähnlich einem Ticketshop oder Zigarettenhäuschen, Waren kaufen konnte. Die Frau sprach gut Englisch, hatte Kekse und Chips, Instantnudeln und Nüsse – alles mehrfach verpackt. Ich kaufte Chips und Cookies. Dann gingen wir die Straße weiter, zurück zum Resort. Unterwegs stießen wir auf unzählige weitere Sari-Sari, alle mit ähnlichen Waren, manche spezialisiert auf völlig anderes.

Vor einem Laden sagte Diday plötzlich: "This is my uncle."
Ich stellte mich vor, schüttelte ihm die Hand, sagte zu ihr: "But why didn't you say anything before? I could have bought everything here."

Aber sie winkte ab, ein wenig beschämt. Da verstand ich, dass sie mir nicht den Eindruck vermitteln wollte, mich zu ihrer Familie zu lotsen, um ihnen zusätzlich Geld einzubringen. Das genaue Gegenteil von Nepotismus. Das hat mich beeindruckt.

Am Abend erzählte ich Edwin, dem Geschäftsführer, und Edison davon – der übrigens Didays Neffe ist, wie ich später erfuhr, und, wie er sagte, zum „großen Clan“ gehört. Beide nickten, doch Jason meinte trocken, ein wenig neidisch: „No one shows me anything. I've been here for more than three months.“

Woran liegt das? Wieso zeigte sie es mir, aber nicht ihm? Liegt es an Sympathie? Oder daran, dass ich von mir erzähle, meine Schwächen offenlege und andere damit einlade, auch von sich zu erzählen?

Vielleicht habt ihr ja eine Antwort.

Paalam muna!

Victor Mancini

Keine Kommentare

Kommentar veröffentlichen

© Vic Mancini on Death Row
Maira Gall