Samstag, 6. September 2025

Manchmal ist es besser, nichts zu tun

Eine große, futuristische Skulptur namens "Molecular" des deutschen Künstlers Florian Hecker, aus transparentem, spiegelndem Material wie Glas oder Acryl, ist in der Nacht beleuchtet. Ihre spiralförmigen und rohrförmigen Elemente sind in einem Gittermuster angeordnet, das an eine komplexe Maschine erinnert. Das Kunstwerk reflektiert das blaue Licht einer gezielten Beleuchtung, die Teil einer Veranstaltung, möglicherweise einer Soundscape-Installation, im Garten der Neuen Nationalgalerie ist. Im Vordergrund sind dunkle, grobe Steine zu erkennen, die die Skulptur tragen.
 

Weg von den düsteren Gedanken. Hin zu Dingen, die ich erlebt und gefühlt habe, weil ich in letzter Zeit so wenig von meinem Alltag berichte: richtig gut sind die auch nicht, aber das erwartet hier, denke ich, niemand. Manches ist es doch wenigstens teilweise:

Die beste Nachricht zuerst. Ich habe Kapitel 21 abgeschlossen – einen Riesenbrocken von 32 Seiten. Es war sehr schwierig und hat lange gedauert, weil ich darin beschreibe, wie es der Protagonistin ergeht, im Konzertsaal, während sie Mahlers 5. Sinfonie hört, gespielt von dem Orchester, dem sie einst angehörte. Es ist ungefähr so, wie wenn sie ihrem Exfreund dabei zusieht, während er Sex mit seiner neuen Freundin hat – eine Mischung aus Ekel, Genuss, Gönnfreude, Ekstase und Depression. Dieses Gefühlschaos zu beschreiben, ist verdammt schwierig. Aber ich habe es geschafft. Glaube ich.

Ich war auf zwei Konzerten letzte Woche. Beide endeten damit, dass ich weinte und weinte. So viel wie lange nicht mehr. Ist was passiert? Nein. So ist das mit Depressionen: Man weint oft grundlos – oder zumindest wirkt es erstmal so.

Das erste Konzert war von HANIA RANI, einer polnischen Pianistin, die ich nicht nur sexy, sondern auch phänomenal an den Tasten finde. Auch mag ich ihre Stimme. Wenn sie singt, bekomme ich Gänsehaut. Hier könnt ihr sie mal bei KEXP (meinem Lieblingskanal, mit meinen Lieblingskonzerten – es war immer ein Traum von mir, einmal dort zu spielen) ansehen:


 

Am Donnerstag aber spielte sie im Garten der Neuen Nationalgalerie – Synthesizer, elektronische Klänge, Soundscapes, wie es im Titel der Veranstaltung hieß. Ich war gelangweilt und enttäuscht. Vor allem fühlte ich mich furchtbar einsam. Es begann schon in der Schlange, in der ich 30 Minuten stand. Dann weitere 40 Minuten neben einem Wasserbecken. Als es schließlich losging, umgeben von Kennern und Hartgesottenen, brach in mir alles zusammen. Die Musik war für mich unerträglich: nur Geräusche, kein Beat, keine Melodie, nichts. Zum Glück kostete das Ticket nur 30 € (Ironie!). Nach 20 Minuten ging ich. Und weinte den ganzen Weg bis zum Potsdamer Platz.

Dieses Foto zeigt die Musikerin Hania Rani in einem Zelt, von der Seite aufgenommen. Sie sitzt an einem Keyboard und ist von blauem Licht und Nebel umgeben. Eine Lichtquelle beleuchtet sie von hinten und links, während die vordere Hälfte des Bildes im Schatten liegt. Der Rahmen der Zeltkonstruktion ist deutlich zu erkennen.

Das zweite Konzert war von der Band DIE NERVEN. Im Rahmen des Pop-Kultur-Festivals im Kesselhaus der Kulturbrauerei spielten sie am Ende, nach Efterklang und Los Bitchos. Die erste Band musste ich mir sparen – vier Stunden stehen, von 20:20 bis Mitternacht, ging einfach nicht. Ich war ohnehin k.o., weil ich am Nachmittag mit meinem Freund E. eine Radtour bis Flughafen Schönefeld und zurück gemacht hatte.

Um 22:20 kam ich am oberen Ende der Kulturbrauerei an, schloss mein Rad ab und ging zum Eingang. Dort hieß es: erst ein Festival-Bändchen holen. Das gab’s am anderen Ende des Geländes. Zum Glück keine Schlange mehr um die Uhrzeit. Der Hipster an der Kasse legte mir das Bändchen gutgelaunt um, knipste es fest und meinte: Damit könne ich alle Acts sehen. Ich knurrte zurück, dass ich nur Los Bitchos und Die Nerven wolle und das Ganze ziemlich prätentiös fände. Er guckte auf seine Casio und meinte: „Die spielen doch schon längst.“ Ich: „Eben. Kann ich endlich rein. Normaler Einlass hätte auch gereicht.“

Bis ich drin war, sah ich noch zwei Songs von Los Bitchos. Und die waren so schlecht, dass ich mich fragte, ob ich im falschen Film war. Eigentlich war die Idee interessant: Cumbia aus London, gespielt von vier Frauen aus Australien, Schweden, Uruguay und England. Aber live war das einfach nicht gut. Auch nach langem Überlegen fällt mir kein besseres Adjektiv als „schlecht“ ein.

Der Schweiß tropfte von der Decke, das Publikum widerte mich an. Wieso? Keine Ahnung. Es ging mir jedenfalls nicht gut. Gar nicht gut. In der Pause ging ich raus, um frische Luft zu schnappen. Zum Glück – danach hatte ich wenigstens den Mut und die Kraft, mich durch die schwitzenden Strahlepumpen zur Treppe durchzuzwängen. Oben auf der Galerie über dem Publikum war ich safe. Von dort konnte ich dem Konzert einigermaßen folgen.

Aber dann kam die nächste Enttäuschung. Ich hatte die Band schon sechs Mal gesehen, und jedes Mal spielten und performten sie stark. Doch über die Jahre wurden sie ihrem Namen immer gerechter – sie fingen an zu nerven. Mehr und mehr. Mit zwei Dingen:

  1. Sie sind arrogant anmutende Klugscheißer aus Stuttgart, die ständig rumnörgeln, wenn das Publikum keine Lust hat, bei ihren Spielchen auf der Bühne mitzumachen. Erst soll man still sein, dann darf man das nicht, und so weiter. Wenn ich eins an Berlin liebe, dann dass die Leute auf solchen Scheiß keinen Bock haben. Dafür jubeln und klatschen sie lauter als alle anderen, wenn der Gig gut ist. Spielt gut, singt gut, bringt Energie rüber – und das Publikum wird sich dankbar zeigen. Das war bisher immer meine Erfahrung in 17 Jahren Berlin.

  2. Früher spielten sie so viele Lieder wie möglich, bis sie kaputt waren und umfielen. Heute verschwenden sie die Hälfte der Zeit mit Jam-artigen Auswüchsen, mit tausend langweiligen Stopps am Ende jedes zweiten Songs. Am Samstag haben DIE NERVEN es sich endgültig verschissen – da war es bei achtzig Prozent des Konzerts. Beim letzten Lied bin ich schon gegangen, als sie es übertrieben. Ich hatte die Schnauze voll.

Aber eigentlich habe ich die ganze Zeit geweint – entweder, weil mich die Texte getriggert haben („Ich will für immer leben, Irgendwie überleben, Irgendwie überleben, Ohne jegliche Regung, Keine Bewegung“) oder weil ich an all die Konzerte denken musste, die ich mit meinen Kumpels D. und A. gesehen habe, mit meiner Band DIE ATOMBOMBEN SIND AM VERSTAUBEN, mit E. damals. Und jetzt weine ich wieder, während ich das hier schreibe, weil ich nicht weiß, wie viele Konzerte ich noch sehen werde. Und dann waren die auch noch so scheiße, die blöden Spacken...

 Eine Band namens Die Nerven tritt auf einer Bühne auf. Im Vordergrund sind schemenhaft die Köpfe des Publikums zu sehen. Die drei Bandmitglieder stehen in der Mitte der Bühne unter violettem Licht. Ein Bandmitglied spielt Schlagzeug, während zwei andere an den Seiten E-Gitarre spielen. Hinter der Band befindet sich eine große Leinwand, die hell beleuchtet ist. Oben auf der Bühne hängen Scheinwerfer und eine Discokugel.


Und gestern war ich wieder beim Meetup „Shut Up & Write“ an der Jannowitzbrücke. Perfekt. Ich habe sehr gut geschrieben, bin fast fertig mit dem neuen Kapitel 22. Danach, als alle weg waren, außer einer, sprach ich mit ihr. Nur dreißig Minuten, aber die haben gutgetan. Einfach reden mit jemandem, die auch schreibt, der es nicht gut geht, weil sie CFS hat und mit dem Alltag kämpft. Vor allem war es gut, weil es die einzige halbe Stunde war, die ich diese Woche mit jemandem gesprochen habe – seit der Radtour mit meinem Kumpel am letzten Wochenende.

So viel für heute. Jetzt geht’s zum nächsten Schreibtreff nach Charlottenburg. Hoffentlich kann ich da noch dreißig Minuten tanken. Bis Montag muss es reichen – dann geht’s zum Wandern in den Thüringer Wald. Zwei Tage mit meinem Kumpel C. Der ist eher wortkarg, aber beim Marschieren passt das. Dafür gibt’s Getier.

Glück auf!
Vittorio della Mancinetta

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