Beim letzten Meetup in Charlottenburg lernte ich einen jungen Italiener aus Alto-Adige, sprich Südtirol, kennen. Dort hatte er als Religionslehrer gearbeitet, inzwischen lebt er in Berlin und macht einen Master in Philosophie.
Wir sprachen über die Nähe von katholischer Beichte und psychotherapeutischer Sitzung. Schnell kamen wir auf The Godfather Part III: Michael Corleone beichtet einem Kardinal den Mord an seinem Bruder Fredo.
Keine Aufzählung aller Sünden, sondern das eine, das ihn zerfrisst. Es wirkt weniger wie kirchliches Ritual, mehr wie ein Gespräch, das ihn erleichtert. Fast wie eine letzte Therapie.Von dort war es nicht weit bis zu Tony Sopranos Psychiaterin, Dr. Melfi. Sechs Staffeln lang – oder sieben, wenn man die geteilte letzte mitzählt – therapiert sie ihn, schwankt zwischen beruflicher Distanz und dem Wissen, dass ihr Patient ein Mafiaboss und Mörder ist.
Ich komme darauf, weil ich in meinem letzten Beitrag „Des Teufels Anwalt“ mal wieder von Übersprungshandlungen schrieb. Davon, dass ich mit meinen Mitmenschen nicht mehr zurechtkomme. Zunehmend wird es unerträglich. Lediglich Fremde schaffen es noch, mich nicht sofort zu triggern, nicht gleich in den Abgrund zu ziehen.
In der Beichte sagt der Sünder, was er verbrochen hat. Je nach Schwere des Delikts muss er eine bestimmte Anzahl Vaterunser und Ave Mariae aufsagen – Buße tun, damit ihm vergeben wird.
Der psychotherapeutische Patient dagegen sagt, worunter er leidet. Er stellt fest, dass er von Eltern, Ex-Partnern, Freunden, Kollegen, vom Leben gefickt wurde – und als Sühne muss er nicht nur allen vergeben, sondern ihnen auch noch Verständnis entgegenbringen.
Ich frage mich ständig: Soll man wirklich, wie das Christentum verlangt, die andere Wange hinhalten, anstatt – wie einst – Vergeltung zu üben? Soll ich alles ertragen und die Leute labern lassen, egal wie viel Bullshit sie von sich geben, also zusätzlich zum psychischen Stress durch die Krankheit auch noch unter den unüberlegten Worten meines Umfelds leiden? Und wenn ich meine Wut dann in Worte fassen will, werde ich zurechtgewiesen, von Freunden, die meinen Blog lesen. Jemand schrieb mir zum Beispiel: „Das ist kein guter Vergleich, aber das weißt du, du bist zu intelligent, um das nicht zu merken.“ Und: „Ich habe dich beobachtet, das ist dir vielleicht aufgefallen... Du bist wenig geneigt, auf die Meinungen der anderen zu hören.“ – Solche Worte sind einfach nur hässlich, verletzend.
Oder soll ich sie bestrafen, jeden, der Stuss redet, einfach zum Teufel jagen?
Wahrscheinlich wäre ich dann irgendwann allein. Aber bin ich das nicht ohnehin? Meine Leute könnten ihre Worte besser wählen, vor allem in Nachrichten und Emails, aber auch im Gespräch. Man merkt doch, wenn man etwas Dummes gesagt hat. Ich weiß, dass meine Haut dünn geworden ist – bei jedem Stich weine ich sofort. Weil Worte wie kleine Blitze sind, die mich täglich treffen.
Eine Freundin schreibt, ich solle mich nicht unter Druck setzen lassen, weiterzuleben, bis der Roman raus ist, weil „niemand das wirklich sagen“ könne und wir nur „von Moment zu Moment leben“ müssten. Esoterischer Bullshit. Dann beendet sie die Mail mit „Sei umarmt“. Was soll ich dazu noch sagen? Danke für die Blumen! Sei umarmt! Und mach dir keine Sorgen – ich nippel noch früh genug ab.
Am häufigsten kommt: "Du siehst aber gut aus!" (Die Implikationen überlasse ich euch.)
Andere reden gar nicht. Kein Lebenszeichen, manchmal wochenlang. Wie meine beste Freundin, einfach so. Dann melde ich mich, obwohl es mich große Überwindung kostet, weil ich einfach nicht mehr weiter weiß. Sie: "Dann meld du dich doch. Erst recht, wenn's nicht mehr geht." – Als ob das so leicht wäre. Dafür braucht's kein Todesurteil. Dafür reicht schon 'ne saftige Depression.
Oder mein Bruder, der seit vier Monaten nicht mehr mit mir redet und heimlich in unsere gemeinsame Ferienwohnung nach Italien fährt, wo alles mit den ersten Symptomen anfing. Er schreibt ohne mein Wissen mit der Frau vom Rathaus, mit der sonst ich immer kommuniziert habe. Erst als sie mich ins CC setzt, fliegt seine Heimtücke auf. Und meine Mutter behauptet allen Ernstes, sie hätte es in allen drei Telefonaten vor seiner Abreise vergessen. Als ob! Sie vergisst nicht mal zu erwähnen, dass die Nachbarn sich einen neuen Rasenmäher gekauft haben.
Meine Therapeutin: „Sie sollten versuchen zu verstehen: Ihre Familie, Ihre Freunde — sie wissen nicht, wie sie mit Ihrer Situation umgehen sollen. Sie sind völlig überfordert damit, verstehen Sie doch!“
Ich: „Aber wer hat Verständnis für mich? Für meine Situation? Ich bin auch überfordert. Wieso muss ich Rücksicht auf die Gesunden nehmen, während von den Gesunden keine Rücksicht zu erwarten ist? Ist das hier Opfer-Täter-Umkehr — oder was?“
Sie meint es gut, ihr Ziel ist, mir Werkzeuge zu geben, um den Schmerz erträglicher zu machen. Es triggert mich trotzdem, und der Schmerz bleibt derselbe. Während ich Verständnis zeigen soll, gehen alle unbehelligt nach Hause, leben weiter wie bisher. Am Ende sitze nur ich zu Hause und weine. Verfickte Hurenscheiße! Das ist doch nicht fair. Aber wer hat denn gesagt, dass Krebs fair sei...
Euer
Victor Samsa

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