Ich sah neulich wieder ein Pärchen, das in meinen Augen völlig armselig ist. Als Paar. Einzeln kenne ich sie nicht. Sie ist eine Plapperstrippe, dominant, bestimmt alles – von der Wohnungseinrichtung über die Katzen samt Namen bis hin zu den Büchern, die er lesen darf. Er eine Wurst, wie er dasaß und nicht den Mund aufbekam. Vielleicht ist er von Natur aus schüchtern. Vielleicht ist er erst über die Jahre so geworden. Schwer zu sagen. Jedenfalls: keine schöne, keine erstrebenswerte Beziehung. Nach meinen alten Maßstäben.
Heute sehe ich das anders. Zum Überleben ist jede Beziehung besser als keine. Ein Leben allein kann nur dann gutgehen, wenn jemand Schlimmes mit anderen erlebt hat – und Einsamkeit als kleineres Übel wählt. Dann wird die selbstgewählte Isolation zum sicheren Ort. Loneliness = safe space. Das heißt nicht, dass sie ohne soziale Kontakte leben. Aber sie bevorzugen die Alleinheit. Meine Beobachtungen. Nichts weiter. Genauso, was folgt.
Für Leute, die unbeschwert aufgewachsen sind, ohne Missbrauch in der Familie, ohne toxische Beziehungen, die sie beziehungsunfähig gemacht haben, gilt, denke ich, dass sie gern in einer Beziehung leben möchten – wie auch immer diese aussieht. Ich musste Anfang der Woche wieder am Grab von Wolfgang Herrndorf daran denken, dass er mit seiner Frau zwar verheiratet war, aber getrennt lebte. Sie wohnten in verschiedenen Bezirken Berlins, besuchten sich gegenseitig, wenn sie sich sehen wollten. Das finde ich schön, solange es funktioniert.
Das oben genannte Paar ist sicherlich auch glücklich – nur kein Lebensmodell für mich.
Für alle sozialen Wesen, die wie ich unter der Einsamkeit leiden, bedeutet sie Stress. Die tiefe Einsamkeit des Unverstandenseins habe ich schon öfter angesprochen. Sie kann nicht von jedem nachvollzogen werden, weil viele das nicht spüren. Aber auch das simple Alleinsein. Allein zu leben bedeutet ab einem gewissen Punkt schlichtweg Stress, Anstrengung, Überforderung, Trauer, Weinen, Leere.
Ich bin mir sicher – nein, ich weiß, dass ich deswegen krank geworden bin. Und ich weiß, dass ich deswegen auch früher sterben werde als der Durchschnitt derer, die dasselbe Medikament wie ich nehmen: Lorviqua. Denn das, was mich krank gemacht hat, steht mir ebenso beim Durchhalten im Wege – die Einsamkeit. Von Genesung ist hierbei nie die Rede gewesen. Aber selbst die 34 Monate, die die Therapierten durchschnittlich länger leben, muss man erst mal schaffen, wenn man down ist wie schon davor. Wie soll man den Kampf bestreiten, wenn man in derselben Situation ist.
Bei physischen Leiden ist das immer anders. Wenn man weiß, dass jemand Krebs bekommen hat, weil er in Tschernobyl lebt, dann holt man ihn erstmal dort raus. Aber ich bin an Einsamkeit krank geworden und ich versinke noch tiefer in ihr. Früher hatte ich wenigstens durch das Unterrichten noch Kontakt zu Menschen. Heute gehe ich an manchen Tagen runter zum Edeka, um mir Tofu oder Hafermilch zu kaufen, nur damit die Verkäuferin mit mir spricht, selbst wenn sie mich anschnauzt. Irgendwas findet sie immer, aber selbst das ist besser als nichts.
Die Einsamkeit des Nichtverstandenseins war schon vor der Krankheit scheiße. Manchmal ließ sie sich durch geschickte Manöver des Selbstbetrugs überlisten. Wenigstens für kurze Zeit. Wenn ich mit Menschen zusammen war, die ich mochte und die mich mochten, konnte ich Spaß haben, lachen. Das vertrieb zwar die Einsamkeit nicht, aber es schenkte Energie, machte das Leben lebenswert. Heute hab ich nicht mal mehr das.
Meine Freunde haben noch weniger Zeit als früher in ihren vollen Kalendern. Und wenn man sich doch trifft, wird kaum noch gelacht. Der Krebs sitzt immer mit am Tisch, der Elefant im Raum, besonders bei social gatherings. Wer will schon mit einem Unheilbaren abhängen? Ich würde mich selbst auch nicht einladen, aus Angst, die anderen zu vergraulen. Ab und zu meldet sich jemand, anstandshalber, fürs Gewissen.
Anfangs, kurz nach der Diagnose, haben sich alle auf mich gestürzt. Sofort waren die Zugtickets gekauft und die Flüge gebucht. Jeder wollte sich von mir verabschieden. Jetzt gibt es Aufschub. Das Todesurteil wurde nicht aufgehoben, nur verschoben. Doch die Dringlichkeit ist nicht mehr vorhanden oder eine andere. Es ist wie mit einem Notstromaggregat. Solange es nicht gebraucht wird, steht es still, um Energie zu sparen. Erst wenn die Hauptstromversorgung ausfällt und der Stromausfall unmittelbar bevorsteht, springt das Aggregat mit voller Leistung an und liefert die notwendige Energie. Sobald der Strom aber wieder da ist und die Gefahr gebannt, schaltet sich das Aggregat wieder ab und kehrt in seinen Ruhezustand zurück.
Am schlimmsten ist die Abwärtsspirale. Meldet sich jemand, reagiere ich nicht mehr. Es ist zu spät. Wie bei meinem Bruder. Ganz schlimm, weil er auf unschuldig macht. Meldet sich vier Monate nicht mehr, obwohl ich ihn mehrfach darum gebeten habe. Als ich zuletzt auf eine hinterlistige Angelegenheit reagierte, schrieb er allen Ernstes: "Ich weiß gar nicht, worüber du dich aufregst." Heuchlerisch. Behauptet, Blut sei dicker als Wasser. So sterben Familien. Da bin ich raus.
Laut WHO sterben weltweit 871.000 Menschen jährlich an den Folgen der Einsamkeit.
Victor Mancini
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