Das alles und noch viel mehr
Ich bin müde. Die letzten Tage stecken mir in den Knochen. Ich hatte Besuch aus Bielefeld. Mein Drummer J. – ich nenne ihn immer noch so, obwohl unsere Zeit in der Band schon vor meiner Krankheit endete. Aus räumlichen Gründen. Die Entfernung zwischen Berlin und Bielefeld machte regelmäßige Proben auf Dauer unpraktikabel. Und als dann noch der Nachwuchs kam, mussten die Atombomben endgültig weichen. War auch gut so – weil selbstgewählt.
Heute könnte ich keines unserer Lieder mehr singen, selbst wenn ich wollte. Die Lunge würde nicht mehr mitmachen. Bei dem Gedanken muss ich weinen, wie ein Macho, den man der Männlichkeit beraubt hat. Nie wieder im Proberaum unsere Songs spielen, nie wieder neue mit ihnen schreiben, nie wieder auftreten. Solche Sätze haben immer etwas Endgültiges. Und da in meinem Leben jeder Abschied final sein kann, fließen Tränen – wie heute, am Bahnhof. Wer weiß, ob wir uns nochmal wiedersehen.
Ich versuche, an den schönen Erinnerungen festzuhalten. Wie oft habe ich diesen scheiß Spruch gehört, das Glas halb voll zu sehen. Jedes Mal habe ich abgekotzt, weil er übergriffig wirkt. Diese anmaßende Unterstellung! Als ob man sich nur anstrengen müsse, und zack, die Welt sieht anders aus. Diese Annahme ist pure Dummheit. Als ob man sich entscheidet, depressiv zu sein. Klar, ich weiß, dass sie das sagen, weil sie sich hilflos fühlen, wenn sie mit psychisch Verstimmten konfrontiert sind. Aber wieso können sie nicht einfach die Fresse halten und die Leute Fresse ziehen lassen, wann immer ihnen danach ist?
Eigentlich wollte ich mich an den schönen Dingen festhalten, und schon würg ich hier wieder Bilirubin! Also nochmal von vorn:
Vorgestern sahen wir "edge out" – eine beeindruckende Ausstellung der irischen Installationskünstlerin Mariechen Danz in der Berlinischen Galerie. Überdimensionierte, löchrige Platinen in Form von menschlichen Körpern, andere in der Höhe angebrachte Platinen mit Landkarten, transparente Scheiben, die plötzlich opak wurden, später als Videoprojektionsflächen dienten, Sounds, Fossilkunst und Fußabdrucke, die uns durch den Raum geleiteten.
Die andere Künstlerin war Käthe Kruse, Teil der Band „Die tödliche Doris“. Ihre Ausstellung „Jetzt ist alles gut“ gefiel mir überhaupt nicht, J. fand sie auch doof. Eine Musikerin, die ihren Proberaum nachstellte – die Instrumente waren allesamt mit braunem Leder überzogen. Keine Berührung, kein Stimulus. Auch ihre anderen Sachen gaben mir nichts.
Der Film Psychonauten von John Bock und Heiner Franzen im Nebenraum gab mir auch nichts. Wirkte klamaukig, banal. J. war schon eher interessiert. Ich musste den Raum verlassen, weil ein Pärchen sich neben uns setzte - die Frau trug ein sehr starkes unangenehmes Parfüm. Wer mich kennt, weiß, dass ich schon immer ein Problem mit stark riechenden Düften hatte. Seit meiner Krankheit noch mehr.
Spannender war die sogenannte Provenienzforschung, die heutzutage in aller Munde ist. Natürlich nimmt auch die Berlinische Galerie daran teil. Woher stammen die Werke, die wir uns tagtäglich in den hiesigen Museen und Galerien ansehen? Sind sie zurecht an ihren Orten oder wurden sie von den Nazis (oder schon vorher, im kolonialen Zusammenhang unter dem deutschen Kaiserreich) entwendet?
Gestern waren wir am alten Tacheles. Nichts mehr von dem Flair von damals wiederzuerkennen. Aber dennoch muss ich gestehen, auch als todkranker immer noch ein Punk im Herzen, dass man es architektonisch gut gelöst hat. Die Häuserfassaden, die Lampen, die Holzbänke, die Lüftungstürme der Tiefgarage im Innenhof, die von den Lampenseilen runterhängenden Pflanzen. Alles wirkt stimmig und schick. Abhängen möchte ich da trotzdem nicht. Früher schon.
Im Anschluss waren wir am Grab von Wolfgang Herrndorf. Dieses Jahr früher als sonst. Ich gehe ihn jedes Jahr am 26. August, dem Tag seines Todes, besuchen. Normalerweise allein. Welch merkwürdiges Gefühl, mit jemand anderem gemeinsam zu trauern. Werden meine Freunde das auch mal tun, wenn ich nicht mehr da bin? An mein Grab gehen? Ich muss unbedingt noch ein Testament schreiben, in dem verewigt ist, dass ich in Berlin begraben werden möchte. Verbrannt und dann auf dem Friedhof hinter dem Haus, durch den ich immer laufe, wenn ich im Park joggen gehe. Falls ich vorher sterben sollte – ihr seid meine Zeugen. Dass meine Familie ja nicht auf die Idee kommt, mich in dem verhassten Ort meiner Kindheit oder auch nur in dessen Nähe zu begraben
Unseren Bassisten Z. besucht. Bei der Arbeit in Mitte gestört. War schön nochmal so zusammen. Die Atombomben sind am Verstauben trinken heute gemeinsam Kaffee, statt die Instrumente zu prügeln und die Mikros vollzusabbern. Und ich muss schon wieder weinen. Fuck! ... Ich werde es nicht müde zu sagen, solange ich noch lebe: HÖRT EUCH LIEBER SELBSTGEMACHTE MUSIK AN, egal wie schlecht sie ist, statt dem zu lauschen, was nachgespielt wird. There's no lower form of music than cover bands, sagte schon Henry Rollins.
Und dann Kino am Nachmittag. Genial! Im Delphi Lux, wo ich nie zuvor gewesen war. Tolles Kino! Guter Film aus Island: Wenn das Licht zerbricht. Aber vielleicht nicht meine beste Wahl. Es ging um Tod und Trauer. Wenn auch ganz anders, war das Thema womöglich zu nah an mir dran.
Mit J. abzuhängen und Dinge zu erleben, war schön. Wenn ich all die Zeit für einen Song mit ihm eintauschen könnte, würde sich mir die Frage nie stellen. Euch auch nicht, nehme ich an. Selbst wenn ihr mich nicht persönlich kennt, aber meinen Blog verfolgt, so wisst ihr, dass es nur eine Wahl geben kann.
Das alles und noch viel mehr würd ich machen wenn ich...
Rio Mancini
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